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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Abschied ihre Tochter Mirjam auf die Stirn, faßte ihren Sohn Aaron bei der Schulter. Amram stand abseits, die Arme vor der Brust verschränkt, blickte auf die Straße, und als Jochebed auf der Straße ging, drehte er sich um und sah ins Haus.
    Mirjam war damals ein Mädchen von acht Jahren. Sie wußte, daß ihre Mutter nicht für immer ging. Man hatte ihr alles erklärt, und sie hatte alles verstanden. Sie hatte verstanden, daß es Vater und Mutter gemeinsam unter einem Dach nicht mehr aushielten. Und das tat ihr weh, es tat ihr nicht weniger weh, als wenn die Mutter für immer gegangen wäre. Mirjam stand auf der Straße und hielt ihren Bruder Aaron an der Hand. Sie weinte.
    Aaron weinte nicht. Er war erst fünf Jahre alt. Für die Mörder war er zu alt. Pharao Malul hatte den Mord an israelitischen Knaben bis zu vier Jahren freigegeben. Aaron war ein zartes, kränkliches Kind. Es war nicht nur einmal vorgekommen, daß seine Mutter und sein Vater einem Mann, der mit einem Knüppel in der Hand in das Haus eingedrungen war, beweisen mußten, daß ihn zu ermorden nicht straffrei war. Er war in einer Zeit aufgewachsen, in der es normal war, daß solche wie er erschlagen wurden. Das ist keine Zeit für Tränen.
    Keine Liebe war im Land, und keine Liebe war in den Herzen. Mirjam betete zu Gott.
    »Mach, daß die Liebe wieder kommt«, betete sie. »Daß sie im Herzen des Pharaos einkehrt. Und daß sie in die Herzen unserer Eltern zurückkehrt.«
    Eines Nachts hatte sie einen Traum. Sie träumte von einem Engel. Der Engel kam über die Felder, und er war so leicht, daß sich die Ähren nur wenig unter seinen Füßen beugten.
    »Mirjam, siehst du mich?« rief der Engel.
    »Ich sehe dich«, sagte Mirjam.
    »Ich bin da«, sagte der Engel. »Ich bin doch da, oder?«
    »Ja, du bist da«, sagte Mirjam.
    »Aber niemand sieht mich. Nur du allein kannst mich sehen.«
    »Es ist ein Traum«, sagte Mirjam. »Ich schlafe und träume und sehe dich im Traum.«
    »Gott hat mich zu dir geschickt«, sagte der Engel.
    »Hat Gott meine Gebete erhört?« fragte Mirjam im Schlaf.
    »Er hat sie jedenfalls gehört«, antwortete der Engel.
    »Und? Wird die Liebe in die Herzen des Pharaos und unserer Eltern einziehen?«
    »So einfach ist das nicht«, sagte der Engel. »Die Liebe kommt zwar von Gott, das ist schon richtig, aber es liegt beim Menschen, ob er sie annimmt oder nicht. Gott hat sich nun einmal darauf versteift, euch einen freien Willen zu lassen, und daran will er nichts ändern.«
    »Was haben dann meine Gebete genützt?« fragte Mirjam.
    »Ein bißchen haben sie schon genützt«, sagte der Engel. »Also, beim Pharao hat sich Gott zurückgehalten, dem hat er keine Liebe geschenkt, den braucht er so, wie er ist, mit ihm hat er andere Pläne. Aber deinen Eltern, Jochebed und Amram, ihnen hat er die Liebe geschickt – übrigens zum wiederholten Male. Was sie daraus machen, darauf will Gott, wie gesagt, keinen Einfluß nehmen.«
    »Und ich?« fragte Mirjam. »Was wird aus mir?«
    »Du hast eine schöne Stimme«, sagte der Engel. »Eine schöne Stimme und eine laute Stimme. Gott hat beschlossen, dir hellseherische Gaben zu verleihen. Du wirst schlafen und träumen, und im Traum wirst du mich sehen, wie ich über die Felder komme, so leicht, daß sich die Ähren nur wenig unter meinen Füßen beugen. Wir zwei werden gute Bekannte werden. Ich werde dir mitteilen, was du deinem Volk verkünden sollst.«
    »Und heute«, fragte Mirjam im Traum den Engel, »hast du heute schon eine Nachricht mitgebracht, die ich meinem Volk verkünden soll?«
    Ja, das hatte er.
    Am nächsten Tag ging Mirjam hin und verkündete, was ihr der Engel aufgetragen hat.
    »Hört, ihr Frauen und Männer Israels! In der vergangenen Nacht war ein Mann aus unserem Volk bei seiner Frau gelegen, und die Frau hat empfangen, und sie wird einen Knaben zur Welt bringen, und der wird Israel erlösen!«
    Auf der Straße verkündete Mirjam das Wort Gottes. Die Menschen drängten sich um sie, fragten, wollten mehr wissen. Und unter den Menschen waren auch Jochebed und Amram. Nachdem Mirjam gesprochen hatte, zog Jochebed ihren Mann am Ärmel beiseite. Sie zog ihn ins Haus, zog ihn in die Kammer, die bis vor kurzem die ihre gewesen war, und schloß die Tür ab.
    »Ich bin gemeint«, sagte sie.
    Amram blickte vor sich nieder. Nickte.
    Gott hat den beiden die Liebe geschickt – zum wiederholten Male und in der vorangegangenen Nacht wieder. Amram war aufgewacht, und er hatte das Haus

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