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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sagte der Bettler. »Deine Augenbrauen sind zusammengezogen, deine Stirn gefurcht, deine Mundwinkel deuten nach unten, und du hast noch nicht einmal gelacht, und wir sitzen immerhin schon fast eine Stunde hier zusammen.«
    Und weil es so angenehm war, im Schatten einer Hauswand zu sitzen und auf den Abend zu warten, und weil dieser Bettler einen so vertraulichen Ton in der Stimme hatte, daß man meinen konnte, er kenne einen schon lange und wundere sich über nichts und sehe einem alles nach, darum begann Levi zu erzählen. Und weil er für gewöhnlich nie etwas erzählte, dachte er sich: Nun, da ich einmal angefangen habe damit, kann ich gleich alles erzählen.
    Und Levi erzählte dem Bettler sein ganzes Leben. Und ließ nichts aus. Es war eine Beichte. Und mehr als das: Es war ein Kennenlernen. Levi lernte sich selbst kennen, als wäre die Erinnerung ein Roman mit ihm als Hauptperson. Und weiter: Es war das Begreifen eines Zusammenhangs. Erst in der Erzählung begriff Levi, daß sein Leben ein böses Leben gewesen war, und er begriff, wie aus einem Leben ein böses Leben werden kann, obwohl der Mensch, der es lebte, in jedem Augenblick überzeugt war, daß er richtig handelte, daß er Richtiges sagte, daß er die Wahrheit empfand.
    Es ist ganz einfach, dachte Levi und war doch erstaunt darüber, man hat etwas kleines Böses getan, und es ist nichts geschehen, merkwürdigerweise ist das Leben weitergegangen, ohne daß das kleine Böse die geringste Spur hinterlassen hat, und darum glaubt man, es war gar nicht so sehr böse, und dann glaubt man, es war gar nicht böse, und irgendwann glaubt man, es war gar nicht. Und dann folgt das nächste kleine Böse, und alles wird genauso.
    Und noch etwas wurde ihm klar: Alles Gelebte, auch das Böse, kann in Augenblicke zerteilt werden, das heißt: Etwas, das im Abstand der Erzählung als etwas großes Böses gesehen werden muß, wie Levis Vorschlag, Josef zu töten, oder als er die Brüder aufgehetzt hatte, bei Nacht in Schechem einzufallen, auch diese großen bösen Taten können als aus winzigen Teilen bestehend gesehen werden, und es ist ganz leicht, diese Teile in ihrer Betrachtung und Beurteilung so klein zu machen, bis ein jedes, für sich genommen, nur noch ein winzig kleines Böses ist, das keiner Entschuldigung mehr wert ist, weil gar keine Schuld daraus entstehen kann.
    Und erst als er sein Leben dem Bettler erzählte, sah Levi ein, wie schwer es ist, kein böses Leben zu führen, eben weil das Leben selbst aus lauter winzigen Augenblicken besteht, in lauter winzig kleinen Schritten passiert, die, jeder für sich genommen, keiner Entschuldigung wert sind, die nicht die geringste Spur hinterlassen, so daß man glauben darf, es war gar nicht so sehr böse, was man getan, gesagt oder empfunden hat, und dann glaubt, es war gar nicht böse, und irgendwann behauptet, es war gar nicht. Eben bis man eines Tages sein ganzes Leben im Zusammenhang vor sich sieht, wie es Levi sah, als er dem Bettler sein Leben erzählte, und ihm nun von seiner eigenen Erzählung bewiesen wurde, daß das Böse eben doch eine Spur hinterlassen hat, nämlich sein Leben selbst, »Du hast mir eine lange Geschichte erzählt«, sagte der Bettler. Da war es schon weit über Mitternacht. Sie saßen immer noch im Staub der Straße, den Rücken an die Hauswand gelehnt.
    Und der Bettler sagte: »Ich möchte dich etwas fragen: Weißt du, was Glück ist?«
    Levi antwortete: »Natürlich weiß ich, was Glück ist. Jeder weiß es, auch wenn es keiner definieren kann.«
    »Und warum, glaubst du, daß es keiner definieren kann?«
    »Was nützt es mir, wenn ich weiß, was Glück ist, und nicht glücklich bin. Was schadet es mir, wenn ich nicht weiß, was Glück ist, aber glücklich bin?«
    »Warst du in deinem Leben schon glücklich?«
    »Das wird schon sein.«
    »Wie oft?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Der Bettler ließ Levi Zeit.
    Nach einer Weile sagte Levi: »Nein, ich glaube, ich war noch nie glücklich in meinem Leben.«
    Da fragte der Bettler: »Willst du das Glück kaufen?«
    »Ich wußte nicht, daß man das Glück kaufen kann«, sagte Levi und lachte, aber es war kein Lachen, das der Bettler als solches gelten ließ. »Ist Ägypten so reich, daß man hier sogar das Glück kaufen kann?«
    »Nein, auch in Ägypten kann man das Glück nicht kaufen«, sagte der Bettler. »Genausowenig wie in jeder anderen Stadt der Welt. Es liegt nicht am Ort.«
    »Woran liegt es denn?«
    »Es liegt am Preis. Das Glück ist

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