Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Amram war, als sähe er seine Jochebed zum ersten Mal, als spreche er zum ersten Mal mit ihr.
    »Wir kennen uns erst seit wenigen Stunden«, sagte er. »Erst seit wenigen Minuten sind wir allein. Und doch kann ich in deinem Herzen lesen.«
    »Niemand kann im Herzen eines anderen lesen«, sagte Jochebed und blickte dem jungen Mann immer noch nicht in die Augen. »Wie sollte das auch gehen! Das Herz ist tief in der Brust verborgen.«
    »Oh, doch«, sagte Amram, »es gibt ein Mittel, das macht, daß wir einem anderen mitten ins Herz schauen können.«
    »Und was ist das für ein Mittel?« Ihre Stimme zitterte, und es war nur ein Flüstern.
    »Die Liebe«, sagte Amram.
    Da blickte ihn Jochebed an, und sie konnte bis in sein Herz sehen.
    »Ich bin einem anderen versprochen«, sagte sie.
    »Du bist ihm versprochen«, sagte Amram. »Aber liebst du ihn auch?«
    »Ja, ich liebe ihn«, sagte sie.
    »Von ganzem Herzen?«
    »Ich liebe ihn von ganzen Herzen.«
    »Und du würdest ihn nie verlassen?«
    »Ich würde ihn nie verlassen.«
    »Und du willst bei ihm bleiben bis zu deinem Tod?«
    »Ich will bei ihm bleiben bis zu meinem Tod.«
    Was für ein Jubel stieg da in Amram auf! Beinahe hätte er sich verraten. So gern hätte er Jochebed umarmt! Noch heute nacht, dachte er bei sich, wird dieser Fremde für immer aus unserem Leben verschwinden, und morgen wird Amram zurückkehren, und Amram wird seiner Jochebed endlich sagen, wie sehr er sie liebt, von ganzem Herzen, daß er sie nie verlassen wird und bei ihr bleiben will bis zu seinem Tod. Und dann werden Amram und Jochebed heiraten.
    Dieser Fremde wußte, was sich gehört. Er verneigte sich vor Jochebed und wollte sich schon zum Gehen wenden, da sprang Amram doch noch das Glück auf die Zunge, das Glück und der Übermut.
    Er sagte: »Eines sollst du wissen, Jochebed. Wer immer dein Bräutigam ist, sag ihm, es war einer da, der dich nicht weniger liebt als er. Sag ihm, er hatte einen zweiten Sattel auf sein Pferd geschnallt. Dieser Sattel war für Jochebed.«
    Dann ging er und ließ Jochebed allein beim Brunnen zurück.
    Und Jochebed? Sie lief dem Fremden nach. Alle Gefühle, die sie für Amram empfand, verbanden sich in ihr mit einer neuen Leidenschaft, einer Leidenschaft, wie sie noch nie in ihrem Innersten gebrannt hatte. Die Liebe kommt von Gott, rief es in ihr, und Gottes Wille ist stärker, als ein Beschluß der Familie je sein kann. Sie lief dem Fremden nach, wollte ihm sagen, er soll sie mit sich nehmen, sie will ihm folgen, wohin er auch zieht.
    Sie traf den Fremden, wie er gerade sein Pferd sattelte. Einen Augenblick hielt sie inne, verbarg sich, wollte diesen Mann ansehen. Sie sah, wie der Fremde seinen Mantel auszog. Sah, wie er sein Haar vom Kopf nahm. Sah, wie er sich den Bart von Oberlippe und Kinn zupfte. Sah Amram.
    Im selben Augenblick drehte sich Amram um. Sah Jochebed, die ihm nachgekommen war – die dem Fremden nachgekommen war. Und Jochebed wurde klar, daß Amram sie hatte verführen wollen, daß kein Vertrauen in ihm war, daß er sie hatte prüfen wollen. Und Amram wurde klar, daß Jochebed die Prüfung nicht bestanden hatte.
    Von nun an herrschte Mißtrauen zwischen ihnen. Amram und Jochebed wurden Mann und Frau, aber die Liebe, die in ihnen gewesen war, als sie Kinder waren, die gab es nicht mehr.
    Sie liebten sich nicht mehr – das sagt sich so leicht! Glücklich Liebende, heißt es, sind sich überall auf der Welt ähnlich; die unglückliche Liebe aber tragen jeder Mann und jede Frau auf eigene Weise in sich.
    Nein, es ist nicht wahr, daß die beiden sich nicht mehr liebten. Hinter der Gleichgültigkeit, mit der sie sich tagsüber begegneten, blieb ihr Leben lang eine Erinnerung gegenwärtig und mächtig, nämlich die Erinnerung an diese rätselhafte Leidenschaft, die sie füreinander empfunden hatten, als Jochebed meinte, einen anderen Mann vor sich zu haben, und Amram sich selbst als ein anderer von Jochebed begehrt fühlte. Und unter der Kälte, die zwischen ihnen war, schwelte diese Leidenschaft ihr Leben lang weiter.
    Freunde und Bekannte hätten das nicht für möglich gehalten. Man redete hinter ihrem Rücken, zuckte verwundert die Achseln, schüttelte den Kopf über so viel gegenseitige Teilnahmslosigkeit, so viel gegenseitiges Desinteresse, nahm sich im stillen vor, es in eigener Angelegenheit nie so weit kommen zu lassen; fragte sich, wie es in so einer Ehe überhaupt zu Nachwuchs kommen konnte.
    Jochebed und Amram stritten sich nicht einmal.

Weitere Kostenlose Bücher