Geschichten von der Bibel
Sie gingen einander aus dem Weg, sie beachteten sich gar nicht. Sie aßen nur selten zur selben Zeit und am selben Tisch. Wenn sie die Felder bearbeiteten, fing Amram auf der einen Seite an und Jochebed auf der anderen. Es gab Leute, die sie seit Jahren kannten, die behaupteten, sie hätten die beiden nie ein Wort miteinander reden hören.
Jochebed und Amram schliefen nicht im selben Bett, nicht einmal im selben Raum. Aber sie hatten ihr Geheimnis, und oft kam es vor, daß Amram mitten in der Nacht erwachte, erfüllt war von dieser alten Leidenschaft und hinüberging zu Jochebed und sich stumm zu ihr legte. Und nicht seltener kam es vor, daß Jochebed erwachte und in Amrams Kammer schlüpfte. Sie sprachen nicht darüber. Wenn sie am Morgen in Umarmung erwachten, setzten sie sich schnell auf und drehten einander die Rücken zu, und Amram schlich zurück in seine Kammer oder Jochebed in ihre. Sie waren Mann und Frau, und es war ihrer beider eheliche Pflicht, einander beizuliegen. Aber sie schämten sich, wenn sie die Ehe vollzogen. Als hätten sie sich einer verbotenen Leidenschaft hingegeben. Nichts anderes ist es, sagten sie sich. Sagte jeder zu sich selbst.
Die Erinnerung an den Abend beim Brunnen, als sie sich in ihrem Innersten erkannt hatten, ohne sich äußerlich zu erkennen, diese Erinnerung hielt ihnen vor Augen, daß in ihrer Seele Gefühle waren, vor denen sie sich fürchteten, andere Gefühle, als sie Ehemann und Ehefrau füreinander empfinden dürfen. Die Erinnerung an diese Leidenschaft war auch die Erinnerung an Mißtrauen und Betrug, und der Gedanke beunruhigte sie, daß Mißtrauen und Betrug diese Leidenschaft erst entzündet haben könnten, daß vorher zwar Liebe dagewesen war zwischen ihnen, aber nicht diese Leidenschaft, und daß es diese Leidenschaft war, die die Liebe vertrieben hatte.
Jochebed brachte eine Tochter zu Welt, die nannte sie Mirjam. Und dann brachte sie einen Sohn zur Welt, den nannte sie Aaron.
Es kam die böse Zeit, als Pharao Malul Israel mit Fron unterdrückte, und dann die Zeit, als der Pöbel durch die Straßen Ägyptens zog und die Knaben Israels aus ihren Wiegen riß. Da schlich sich Amram in der Nacht wieder einmal zu Jochebed. Sie wollte ihre Arme um ihn legen. Er aber zündete die Lampe an.
»Ich will kein Licht«, sagte Jochebed.
»Ich will mit dir sprechen«, sagte Amram.
»Ich will nicht mit dir sprechen«, sagte Jochebed.
Mann und Frau blickten einander an, und Amram sah in Jochebeds Augen Zorn und Trauer. Und er wußte den Grund dafür. Zorn und Trauer, weil von nun an auch ihr nächtliches Geheimnis kein Band mehr zwischen ihnen sein würde. Denn beide ahnten, daß der Wächter dieses Geheimnisses ihr Schweigen gewesen war. Amram empfand nicht anders als Jochebed.
»Jochebed …«, sagte Amram.
Beide hielten dem Blick des anderen stand. Jochebed hoffte, Amram würde ein richtiges, ein gutes Wort finden. Und Amram suchte nach diesem Wort.
»Jochebed …«, sagte er noch einmal.
Alles, was er im Augenblick empfand, war in diesem Wort eingeschlossen.
Für Jochebed war das zuwenig. Es genügte ihr nicht.
»Was willst du?« fragte sie.
Aber Amram war in dieser Nacht ja gar nicht zu seiner Frau gekommen, weil er über ihre Ehe sprechen wollte, über ihre verlorene Liebe, über ihre Leidenschaft. Er war gekommen, weil ihm die politische Lage große Sorgen machte. Darüber wollte er mit seiner Frau sprechen. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Den wollte er Jochebed mitteilen.
»Wir werden auch in Zukunft nicht davon lassen können, einander in der Nacht zu besuchen«, sagte er.
»Ich will darüber nicht reden«, sagte Jochebed.
»Aber wenn du wieder schwanger wirst«, fuhr Amram fort, »und wenn du einen Sohn zur Welt bringst, dann wird er erschlagen werden. Das könnten wir beide nicht ertragen, denn ich habe dich nicht, und du hast mich nicht, und so haben wir beide nichts, woran wir uns halten könnten, wenn das Unglück über uns hereinbricht.«
»Was sollen wir tun?« fragte Jochebed.
»Ich möchte, daß du das Haus verläßt«, sagte Amram. »Wir werden die Tage verbringen wie bisher. Wir werden auf dem Feld arbeiten, ich auf der einen Seite des Feldes, du auf der anderen Seite. Wir werden im Haus unser Essen einnehmen, vielleicht nicht zur selben Zeit und am selben Tisch. Nur eines: Wir werden in der Nacht nicht im selben Haus schlafen.«
Am nächsten Morgen ging Jochebed. Sie nahm nicht mehr mit als ein Bündel mit Wäsche, küßte zum
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