Geschichten von der Bibel
der Naivität dessen, der sich gar nicht vorstellen kann, daß es jemanden gibt, der ihm nicht zuhört.
»Das ist ein guter Vorschlag«, sagte Bithja zu Mirjam. »Es ist ein Glück, daß du zufällig in der Nähe warst.«
Bithja hat die Zusammenhänge durchschaut, ohne Zweifel. Daß hier eine hebräische Frau ihr Kind retten wollte vor der grausamen Willkür des Pharaos; daß sie ihre Tochter vorgeschickt hat, damit sie den Säugling im Auge behalte, um dann im rechten Augenblick vorzutreten. Bithja wollte eine Mutter sein, und sie wollte eine gute Mutter sein; sie wollte allgemein ein guter Mensch sein und wollte alles, was in ihrer Macht stand, tun, um das Leid derer zu lindern, die von ihrem Vater so grausam verfolgt wurden.
»Lauf, Mädchen, hol deine Mutter«, sagte sie zu Mirjam und befahl ihren Dienerinnen, vorerst mit niemandem über den Vorfall zu sprechen.
Jochebed kam und reichte dem Kind die Brust. Hielt den Blick gesenkt, wollte gar nicht sehen, wer da alles um ihr Kind herumstand.
»Das machst du sehr gut«, sagte Bithja. »Ich glaube, niemand könnte das besser als du.«
Jochebed war mißtrauisch.
»Was soll das heißen?« fragte sie.
Sie fürchtete, die Pharaotochter habe ihr eine Falle gestellt, gleich werde sie die Soldaten ihres Vaters rufen. Sie war ängstlich, aber auch aufmüpfig. Schließlich war es ihr Kind, das da an ihrer Brust lag.
»Was heißt, ich mache das gut?« sagte sie. »Ich mach das so, wie es jede Frau macht, die Milch hat. Wie soll man das auch anders machen!«
Sie drückte das Kind so fest gegen ihre Brust, daß es zu ersticken drohte. Lieber will ich es ersticken, dachte sie, als daß ein Soldat es mir erschlägt.
»Hab doch keine Angst«, sagte Bithja. »Du sollst die Amme meines Kindes sein.«
»Was heißt das?«
»Ich will, daß mein Kind in deinem Haus aufwächst.«
»Was heißt das?«
»Was fragst du immerzu? Du sollst meinem Kind Milch geben. Und du sollst meinem Kind Liebe geben, bis es alt genug ist, um allein den weiten Weg durch alle Zimmer im Palast des Pharaos zu gehen.«
»Heißt das, ich darf es mitnehmen?«
»Das heißt es.«
»Und es kommen nicht morgen Soldaten und reißen es mir weg?«
»Nein. Du hast mein Wort. Nur ab und zu will ich kommen und mir mein Kind anschauen.«
Das Mißtrauen legte Jochebed ihr Leben lang nicht ab. Auch wenn sich die Tochter des Pharaos noch so sehr bemühte, mit der Mutter »ihres Kindes« auf freundliche Weise zu verkehren, Jochebed ließ sie ihr Leben lang spüren, was sie von ihr und ihresgleichen dachte: Von diesen Menschen kommt Böses, nur Böses, und zwar von allen, ohne Ausnahme.
Immer war Jochebed gefaßt auf eine letzte Abrechnung, die um so erbarmungsloser ausfallen würde, je länger sie auf sich warten ließ. Wie kann es auch anders sein, sagte sie sich. Da ist die Tochter des Pharaos, der größer ist als alle Menschen zusammen, und sie kommt zu mir, die ich nichts weiter bin als eine kleine hebräische Frau, und sie tut mir schön und will mich umarmen wie eine Schwester, und ich schau sie nicht einmal an, und sie tut das Allerbeste für meinen Sohn, und ich sage nicht einmal danke, das kann nicht gutgehen, nein, das kann nicht gutgehen, sagte Jochebed zu sich selbst.
Aber sie brachte es nicht über sich, auch nur einmal ein freundliches Wort zu Bithja zu sagen, ihr auch nur einen einzigen freundlichen Blick zu schenken. Und sie weigerte sich, ihren Sohn bei dem Namen zu nennen, den Bithja ihm gegeben hatte, noch als er ein berühmter Mann war, weigerte sie sich. Männer kamen und fielen vor ihr auf die Knie, küßten ihre Füße.
»Du bist die Mutter von Moses!« riefen sie.
Da stampfte Jochebed auf, daß den Pilgern der Staub in die Augen flog.
»Was wollt ihr von mir!« schimpfte sie. »Ich habe zwei Söhne, einer heißt Aaron, der andere heißt Jekuthiel! Und sonst habe ich keinen Sohn!«
Wenigstens vorübergehend war nun alles, wie es sich gehörte: Moses wuchs bei seinen Eltern und seinen Geschwistern auf.
Einmal in der Woche kam ein Bote der Pharaotochter und brachte Lebensmittel und Geschenke für die ganze Familie. Denn Bithja wollte nicht, daß die Eltern »ihres« Kindes arbeiten mußten. Sie sollten ihre ganze Zeit dafür verwenden, sich um den Knaben zu kümmern. Das sollte ihre Arbeit sein.
Bithja wollte helfen, nichts weiter. Aber der Fluch der bösen Tat hatte das Leben in Ägypten vergiftet, und das Gift hatte sich ausgebreitet, und bald war nichts mehr gut, und alles
Weitere Kostenlose Bücher