Geschichten von der Bibel
zornig.
»Was redest du da!« fuhr er Moses an. »Ich habe dir einen Auftrag gegeben. Ich müßte gar nicht mit dir verhandeln. Ich habe einen Narren an dir gefressen, das ist dein Glück! Sonst würde ich einen Blitz aus der Wolke über deinem sturen Kopf auf dich niederschleudern! Aber gut! Wenn sie dir immer noch nicht glauben, dann hol einen Eimer Wasser aus dem Nil und schütte ihn auf den Boden, und das Wasser wird Blut sein. Werden sie dir dann glauben?«
»Anzunehmen«, sagte Moses leise.
»Dann geh jetzt!«
Aber Moses blieb sitzen.
»Worauf wartest du denn noch?«
»Nur noch eines«, sagte er.
»Was denn noch?«
»Wir sprechen nun schon eine ziemliche Weile miteinander. Es muß dir doch etwas aufgefallen sein.«
»Was muß mir aufgefallen sein?«
»Daß sich meine Zunge nur schwer bewegt. Daß meine Zunge Krücken nötig hat, Ähs und Mmms, und daß manchmal kein Laut aus dem Mund kommt, wenn einer kommen sollte, und dann wieder mehr, als kommen sollten. So einen nennt man einen Stammler. Ich bin ein Stammler. Wäre es nicht besser, wenn du einem anderen diese Aufgabe übertragen würdest, einem, der reden kann? Meinem Bruder Aaron zum Beispiel. Meine Schwester Mirjam erzählte mir, er sei ein Redetalent ersten Ranges. Das hätte auch den Vorteil, daß Aaron bereits vor Ort ist, er müßte sich nicht erst auf eine lange und beschwerliche Reise begeben wie ich …«
»Gut«, sagte Gott, »dann soll es eben mit dir nicht sein. Ich werde dich in Ruhe lassen. Du wirst so bleiben, wie du warst, bevor dir mein Feuer erschienen ist. Du wirst leer sein, und du wirst es wissen, du wirst noch ein langes Leben vor dir haben, und das wird so leer sein wie die wenigen Minuten, die du an dem Baumstamm dort drüben gesessen bist.«
Moses sah, wie die Flammen kleiner wurden, wie die Äste des Dornbuschs zu weißer Asche zerfielen, und da erkannte er, daß dieser brennende Dornbusch ein Sinnbild seiner Seele war, daß die Glut Gottes ebenso aus dem Nichts seiner Seele Kraft ziehen konnte, wie das Feuer aus dem Nichts der Wüste sich nährte.
»Ich werde alles tun, was du von mir verlangst«, sagte er und verneigte sich, bis seine Stirn den Boden berührte.
Da erlosch das Feuer, der Wind blies die Asche des Dornbuschs davon. Die Wolke über dem Haupt des Moses löste sich auf. Moses suchte die Herde zusammen und machte sich auf den Weg zum Hof von König Reguel.
AARON
Von der Gerechtigkeit und ihrem Namen – Von Sprechstunden, bei denen niemand vorgezogen wurde – Vom Erzengel Gabriel, der endlich wieder in Träumen erscheint – Von Vorlesungen über Recht und Gerechtigkeit und Glück – Von einem Rechtsstreit und dessen Lösung, die so einfach ist, daß sie wie eine Division durch drei aussieht – Von einer Erfahrung, die Gott mit den Menschen gemacht hat
Aaron war ein gerechter Mann. Jeder nannte ihn einen gerechten Mann. Die höchste Steigerung von gerecht hieß: gerecht wie Aaron. Aaron wußte, daß die Gerechtigkeit seinen Namen trug, und das spornte ihn an, noch gerechter zu sein, und so machte er nicht ein einziges Mal für jemanden eine Ausnahme, und das wirkte bisweilen doch ziemlich borniert.
Ein Beispiel: Wenn er seine Sprechstunden als Vermittler in Rechtsstreitigkeiten abhielt, nahm er niemanden vor, ganz gleich, wie dringend ein Fall war.
»Ich bin ein gerechter Mann«, sagte er. »Ich bevorzuge niemanden, ich benachteilige niemanden. Wer als erster mein Wartezimmer betritt, den rufe ich als ersten in mein Büro.«
Und dann kam eines Tages seine Schwester Mirjam gelaufen und rief aufgeregt: »Aaron! Aaron! Ich muß dir etwas Dringendes mitteilen! Laß mich vor!«
»Nein«, sagte Aaron, »ich bin ein gerechter Mann.«
»Aber ich habe geträumt«, sagte Mirjam. »Der Engel ist mir wieder erschienen, und er hat mir eine dringende Nachricht übergeben.«
Aber Aaron sagte: »Setz dich in das Wartezimmer zu den anderen. Wenn du drankommst, rufe ich dich auf.«
»Aber die Nachricht des Engels ist für dich«, sagte Mirjam.
»Dann muß eben auch der Engel warten, bis er drankommt«, sagte Aaron.
»Aber die Nachricht des Engels stammt aus Gottes Mund!« empörte sich Mirjam. »Und Gott kommt doch wohl vor allen an die Reihe!«
»Ich bin ein gerechter Mann«, sagte Aaron. »Ich bevorzuge niemanden und benachteilige niemanden.«
Und er war stolz, vor seinen anderen Klienten einen so eklatanten Beweis seiner Gerechtigkeit zu liefern.
»Du bist ein bornierter Mann«, schimpfte Mirjam und
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