Geschichten von der Bibel
setzte sich zu den anderen ins Wartezimmer.
Viele Jahre war der Erzengel Gabriel nicht mehr in Mirjams Träume gekommen. Mirjam hatte schon gefürchtet, sie habe den Engel verärgert mit ihrem Drängen, ihr einen Mann zu verschaffen. Tatsächlich war sie auf den Engel zornig gewesen. Sie glaubte zwar nicht, daß ein Engel über genügend Macht verfügte, ein Männerherz gefügig zu machen. Das kann nur Gott persönlich, dachte sie. Aber gleichzeitig sagte sie sich: Ein Erzengel Gabriel ist ja nicht irgendein Engel. Was würde es ihn schon groß beißen, wenn er seinen Einfluß für mich geltend machte?
Mit den Jahren war ihr Zorn vergangen, und auch ihr Wunsch, einen Mann zu bekommen, war vergangen. Da schmerzte sie nur noch der Gedanke, sie sei aus der Gnade Gottes gefallen, weil er nicht mehr einen seiner größten Engel zu ihr schickte.
Jeden Abend betete sie zu Gott: »Einmal noch!« flehte sie. »Nur noch einmal soll mir dein Engel erscheinen!«
Und sie trug ihren Wunsch mit derselben Inbrunst vor, wie sie ehedem den Wunsch nach einem Mann vorgetragen hatte.
Und dann war Gabriel eines Nachts wieder in ihrem Traum gestanden, weiß in seinem Äußeren und etwas spröde in seiner Art, genau so, wie sie sich an ihn erinnerte.
»Es wird sich einiges verändern bei euch«, sagte er.
»So lange Zeit war alles gleich«, sagte Mirjam im Traum, »und nun ändert sich einiges? Warum?«
»Lange Zeit? Was heißt lange Zeit?« sagte der Engel. »Ihr Menschen rennt gegen die Uhr wie eine Fliege gegen die Fensterscheibe.«
Das verstand Mirjam nicht, nicht einmal im Traum.
»Euer Bruder Moses kommt nach Ägypten zurück«, sagte der Engel. »Es muß ihm entgegengegangen werden. Aaron soll das übernehmen.«
»Und du?« fragte Mirjam.
»Was ist mit mir?« fragte der Erzengel.
»Kommst du nun wieder in meine Träume?«
»Das ist vorgesehen, ja«, sagte der Engel.
Da war Mirjam aufgewacht, hatte sich schnell die Kleider übergezogen und war zum Haus des Aaron gelaufen. Es war noch früh am Tag, aber das Wartezimmer im Büro ihres Bruders war bereits überfüllt. Wer von Aaron einen Rat wollte, mußte sehr früh aufstehen.
Nach Stunden rief Aaron seine Schwester zu sich in sein Büro. »Nun bist du an der Reihe, Mirjam«, sagte er. »Was teilt mir Gott über deinen Engel mit?«
»Unser Bruder Moses kommt nach Ägypten zurück«, sagte Mirjam. »Es muß ihm entgegengegangen werden. Du sollst das übernehmen.«
Und Aaron machte sich auf den Weg, und – ich will es vorwegnehmen – obwohl er seinen Bruder seit Kindertagen nicht mehr gesehen hatte, erkannte er ihn, und Moses erkannte Aaron. So hatte es Gott eingerichtet, um durch Verwirrung, Verirrung und Verwicklung nicht unnötig Zeit zu verlieren.
Apropos: Zeit verlieren: Aaron war damals dreiundachtzig Jahre alt. Er war drei Jahre älter als Moses, also war dieser achtzig. Heißt das, zwischen dem brennenden Dornbusch und der Ankunft des Moses in Ägypten sind rund zwanzig Jahre vergangen? Hat Moses doch noch so lange gezögert, bis er Gottes Befehl nachgekommen ist? Kann man das glauben? – Das ist alles sehr merkwürdig, zugegeben, aber, wie bereits bemerkt, Heroenzeit muß man anders messen als Menschenzeit, wenn sie sich überhaupt messen läßt. Also zerbrechen wir uns darüber nicht den Kopf.
Von Aaron haben wir bisher recht wenig gehört. Als er ein Kind war, herrschte in Ägypten Terror. Die provokante Erlaubnis des Pharaos, hebräische Knaben, wo immer ein Ägypter oder eine Ägypterin einen traf, ohne Strafe zu töten, hatte die Güte aus den Herzen so vieler Menschen vertrieben. Das Unrecht war so allumfassend, daß in Aaron schon sehr früh die Überzeugung heranwuchs, daß nur ein ebenso allumfassendes Recht diese Barbarei besiegen, das Gute in den Herzen wiederherstellen und die Menschen daran hindern könnte, in Zukunft solche Taten zu begehen.
Aaron wurde Jurist. Manchmal war er Verteidiger, meistens war er Richter, nie war er Ankläger. Trotz seiner Kindheitserfahrungen war er der Meinung, der Mensch sei in seinem innersten Kern gut, und die Juristerei war für ihn nichts anderes als der Versuch, sich an diesen Kern heranzuarbeiten. Er war ein sehr angesehener Mann, und er war beim Volk Israel ebenso angesehen wie bei den Ägyptern. Man suchte seinen Rat, verlangte nach seinem Urteil, und man bat ihn schließlich auch, das Recht in den Universitäten zu lehren.
Alle seine Vorlesungen begann er mit dem Satz: »Der Mensch ist gut.«
Dann
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