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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ergab es sich meistens, daß einer der Zuhörer rief: »Auch dann, wenn er Böses tut?«
    Dann wurde gelacht. Das war Standard, Aaron wußte das. Er wartete, bis es wieder ruhig war.
    »Ja, auch wenn der Mensch Böses tut, ist er gut«, sagte er.
    Seine Stimme war dabei so ruhig und fest, voll Überzeugung und ohne jeden Zweifel, daß es für die meisten Zuhörer gar keines nachfolgenden Beweises, nicht einmal eines illustrierenden Beispiels bedurft hätte, um dieses offensichtliche Paradox als Wahrheit zu akzeptieren. Es gehörte aber zu Aarons Stil, in Gleichnissen zu sprechen, und so zeigte er seinen Studenten anhand der Frucht eines Nußbaumes, was er meinte.
    »Was seht ihr hier?« fragte er und hielt die Frucht mit der grünen, ledrigen Haut in die Höhe.
    »Die Frucht eines Nußbaumes«, wurde gerufen.
    »Denkt euch, diese Frucht ist der Mensch«, sagte er. »Sie enthält alles, was der Mensch ist.«
    Er schälte das zähe Fruchtfleisch ab.
    »Das ist die Nußschale«, sagte er. »Sie ist sehr hart. Es gibt kein Holz, das härter ist als die Schale dieser Nuß. Das Harte steht für das Böse. Das Böse muß zerschlagen werden.«
    Er nahm einen Hammer, hielt ihn hoch.
    »Dieser Hammer«, sagte er, »ist das Gesetz.«
    Dann zerschlug er die Nußschale und schob sich die Nußkerne in den Mund.
    Er sagte kauend: »Der Kern ist das Gute. Und er schmeckt auch gut.«
    Man lachte. Das war Standard bei den Vorlesungen. Und die Schüler glaubten, sie hätten das Wesen des Menschen verstanden.
    Ja, Aaron hatte eben nicht nur die Gabe, die kompliziertesten Dinge in einfache Worte zu fassen, er verstand es genauso gut, die einfachsten Dinge so auszusprechen, daß viele meinten, hier begegne man einer großen Weisheit.
    Nicht alle meinten das freilich. Es gab Menschen, und es waren nicht die Dümmsten, die kritisierten Aaron, und zwar nicht, weil er falsche Dinge sagte.
    »Er hat noch nie einen eigenen Gedanken gehabt«, das warfen sie ihm vor. »Keinem hat er je etwas erzählt, was der nicht vorher schon wußte. Unwesentliches klingt aus seinem Mund wie Wesentliches, Allgemeinplätze blasen sich auf zu großen Erleuchtungen.«
    Über wirklich wichtige Dinge, insistierten sie, werde in seinen Vorlesungen gar nicht gesprochen – zum Beispiel über den Kampf gegen die Unterdrücker Israels, den Kampf gegen die Ägypter.
    Aaron war ein Mann des Ausgleichs, er wollte Harmonie, und Harmonie – für diese Überzeugung legte er sein Leben ein – sei nur durch das Recht möglich. Ja, Aaron war ein friedliebender Mann. Jeder nannte ihn einen friedliebenden Mann. Die höchste Steigerung von friedliebend hieß: friedliebend wie Aaron.
    »Das Glück«, das war immer der letzte Satz in Aarons Vorlesungen, »das Glück besteht aus Gerechtigkeit und Frieden.«
    Und den Beweis für die Richtigkeit dieses Satzes lieferte Aaron in seiner Tätigkeit als Richter.
    Ein Beispiel soll noch erzählt werden: Da gab es einen Mann, der war Ägypter, und eine Frau, die war Jüdin. Die beiden verliebten sich ineinander. Eine ungewöhnliche Sache. Es war nicht verboten, aber sowohl die Ägypter als auch die Israeliten sahen eine solche Verbindung nicht gern. Die beiden heirateten, und sie hatten drei Söhne. Dann starben sie, und nun die Frage: Wie wird das Erbe aufgeteilt?
    Der älteste Sohn sagte: »Ich bin ein Ägypter! Ich bin Ägypter wie mein Vater. Wir leben hier in Ägypten, und hier herrscht ägyptisches Recht. Ich bin der einzige, der das einsieht. Deshalb gehört alles mir.«
    Der zweite Sohn sagte: »Ich bin ein Jude. Wer ist ein Jude? Ein Jude ist, dessen Mutter eine Jüdin ist. Für mich gilt jüdisches Recht. Weil ich aber von uns dreien der einzige bin, der sich zum Judentum bekennt, deshalb gehört mir alles.«
    Der dritte Sohn sagte: »Machen wir uns doch nichts vor. Unsere Eltern waren Außenseiter, die Juden haben die Mutter abgelehnt, die Ägypter haben den Vater abgelehnt. Ich selbst fühle mich nur meinen Eltern verpflichtet, sonst niemandem, weder dem Volk der Ägypter noch dem Volk der Israeliten. Deshalb gehört das Erbe meiner Eltern mir.«
    Aaron sollte den Streit schlichten. Nach langer, langer, sehr langer Verhandlung verkündete er das Urteil: »Das Vermögen der Eltern soll in drei gleiche Teile geteilt werden.«
    Und siehe da: Die Brüder waren einverstanden. Und nicht nur das. Sie versöhnten sich, fielen einander in die Arme, sie liebten sich, wie sich Brüder lieben sollen. Und sie priesen die scharfe Intelligenz,

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