Geschichten von der Bibel
zuvor. Die Arbeit bestand darin, im Schatten zu sitzen und die Herde im Auge zu behalten. Und als ihm der Wolf zwei Lämmer stahl, stahl Abel dem Wolf zwei Welpen, und er war gut zu den Welpen, und sie liebten ihn und folgten ihm aufs Wort.
»Wie kommt es, daß die Wölfe dir folgen?« fragte Kain.
»Es sind keine Wölfe mehr«, sagte Abel. »Es sind Hunde, und es sind meine Gehilfen.«
Und so durfte Abel von nun an noch länger im Schatten liegen und nachdenken, denn seine Hunde paßten auf die Herde auf, und wenn Gefahr drohte, schlugen sie an.
Abel führte am Morgen die Schafherde hinaus auf die Weide, und am Abend führte er sie wieder nach Hause. Wenn es Zeit war, dann schlachtete er ein Tier. Und die Familie aß gemeinsam, und alle wurden satt. Und alle waren zufrieden.
Manchmal, wenn alle am Abend zusammensaßen, bat Abel seine Mutter und seinen Vater, vom Paradies zu erzählen. Dann erzählten die beiden und ließen ihre Söhne an dem Fell riechen, das ihnen als Kleidung diente.
»Das ist der Geruch des Paradieses«, sagten Adam und Eva.
»Wie war das Paradies?« fragte dann Abel.
»Die Sorge hat es nicht gegeben«, sagte Eva.
»Ich glaube, es war wie Schlaf«, sagte Adam.
Abel war zufrieden, ja, er war sehr zufrieden. Aber seine Neugierde war nicht gestillt.
Er sah die wilden Rinder, und er stahl aus ihrer Herde zwei Neugeborene, ein männliches und ein weibliches, und er zog die Kälber groß. Er war gut zu ihnen, so daß sie ihn liebten und bei ihm blieben. Als sie reif waren, paarten sie sich, und jedes Jahr warf die Kuh zwei Junge. Die wuchsen heran und paarten sich ebenfalls, und bald besaß Abel zu seiner Schafherde obendrein noch eine Rinderherde.
Kain war nicht eifersüchtig, er freute sich für seinen Bruder, er wunderte sich über ihn und bewunderte ihn.
Er sagte zu Abel: »Obwohl du nicht richtig, sondern eher innerlich arbeitest, hast du unsere Familie reich gemacht. Ich hätte das nicht fertiggebracht.«
Und Abel sagte: »Gott hat mir geholfen.«
»Gott liebt dich«, sagte Kain.
»Ich glaube schon«, sagte Abel.
»Liebt dich Gott mehr als mich?« fragte Kain.
»Ich weiß es nicht«, sagte Abel. »Ich denke mir, er liebt dich anders.«
»Wie liebt er mich?«
»Ich weiß es nicht.«
»Kann es sein, daß er mich nicht liebt?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollte er dich nicht lieben?«
»Warum sollte er mich lieben?«
»Wir wissen relativ wenig von Gott«, gab Abel zu.
»Kann es sein, daß er mich haßt?« fragte Kain. »Mein Rücken schmerzt von der Arbeit, so daß ich am Abend manchmal schreien möchte. Er ist krumm und häßlich geworden. Der Schweiß brennt in meinen Augen, und meine Hände sind so hart wie der Boden.«
»Ich habe über deine Arbeit nachgedacht«, sagte Abel.
»Ich habe noch nie über meine Arbeit nachgedacht«, sagte Kain. »Ich habe keine Zeit dazu, und wenn ich am Abend vom Feld nach Hause komme, dann bin ich zu erschöpft, um einen Gedanken zu fassen.«
»Ich habe heute ein Ding gebaut«, sagte Abel, »und ich habe dabei geschwitzt. Das hier habe ich gebaut. Es ist für dich.«
Er zeigte seinem Bruder das Ding, das sah aus wie ein langes Holzscheit.
Er sagte: »Du gräbst mit den Händen die Erde auf, du bekommst einen krummen Rücken davon, deine Hände sind schrundig, die Nägel brechen, und der Schweiß rinnt dir von der Stirn in die Augen. Dennoch ist der Erfolg deiner Arbeit gering. Probier es einmal damit.«
Den Pflug hatte Abel erfunden.
»Spann ihn hinter einen meiner Ochsen«, sagte Abel zu Kain. »Dann wirst du in kürzerer Zeit mehr Ackerland umpflügen, und dein Rücken wird nicht mehr so krumm sein, und deine Hände werden nicht mehr so schrundig und hart sein. Und wir werden mehr zu essen haben.«
Kain tat, wie ihm Abel geraten. Und es war gut. Sehr gut sogar. Am Abend schmerzte sein Rücken nicht mehr. Die Hände wurden weicher. Die Nägel brachen nicht mehr. Und er hatte während der Arbeit Zeit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, ehe er ihm in die Augen rann.
»Einen Nachmittag lang nachdenken bringt mehr als eine Woche Arbeit«, sagte Kain.
Abel nickte.
War Kain eifersüchtig? Wer würde es ihm verübeln? Seine Arbeit war besser geworden durch die Erfindung seines Bruders. Aber er war dennoch bedrückt und traurig. Gott liebt mich nicht, dachte er. Gott liebt Abel. Abel ist klüger, Abel ist schöner. Abel ist fröhlicher. Kain liebte seinen Bruder, und er bewunderte ihn. Und er dachte sich: Ich
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