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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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wäre gern so wie er. Und es tat ihm weh, daß er anders war. Daß er Kain war.
    Am Abend trieb Abel seine Rinderherde über die Felder Kains. Der Rinderdung ließ Kains Pflanzen schneller und kräftiger wachsen.
    »Willst du wissen, warum ich meine Rinder über deine Felder treibe?« fragte Abel.
    »Nein«, sagte Kain, »ich denke, es wird schon richtig sein.«
    »Nein, du denkst nicht«, sagte Abel, »du sagst nur, daß du denkst.«
    »Alles, was du machst, ist richtig«, sagte Kain. »Wir waren arm, durch dich sind wir reich geworden. Besser kann es im Paradies auch nicht gewesen sein.«
    Und wieder wollte Abel sagen: Nicht durch mich, sondern durch Gott sind wir reich geworden, denn Gott hat mir die Gedanken eingegeben, die uns reich gemacht haben, Gott hat mir einen Kopf gegeben, mit dem ich denken kann. Aber er sagte es nicht. Er wußte ja, er würde seinem Bruder damit nur weh tun.
    Eines Tages war Abel wieder einmal mit seinen Herden unterwegs, er suchte neue Weideplätze. Da kam er an eine Mauer. Diese Mauer war sehr hoch, und es sah aus, als wachse aus ihrer Krone der Fels zu einem Gebirge empor. Abel zog mit seiner Herde an der Mauer entlang weiter. Er war neugierig und wollte sehen, ob sich ein Tor in der Mauer finden ließ. Die Sonne schien auf die Mauer, der Wind hatte sich gelegt. Es war nicht heiß, es war nicht kalt.
    Da sah Abel eine Frau, die bei der Mauer saß, den Rücken an die Steine gelehnt. Sie trug das gleiche Kleid aus Fell, wie es seine Mutter Eva und sein Vater Adam trugen. Abel blieb stehen und hob seine Hand zum Gruß. Die Frau bewegte sich nicht, aber sie lächelte ihm zu. Sie sah schläfrig aus. Und sie sah aus, als ob sie keine Sorgen hätte.
    Da trat Abel näher und blieb vor ihr stehen.
    »Ich bin Abel«, sagte er. »Wer bist du?«
    Die Frau antwortete nicht. Sie blickte ihn nur an. Eine warme Zärtlichkeit war in ihrem Blick, und Abel setzte sich neben sie.
    Abel sagte etwas und noch etwas, fragte etwas und noch etwas. Er bekam keine Antwort. Aber er hatte ja auch keine Antwort erwartet. Es genügte ihm, in das Gesicht dieser Frau zu sehen. Ein freundliches Gesicht, ein Lächeln und Grübchen, die entzückten. Und zarte, feingliedrige Hände hatte sie.
    Abel legte seinen Kopf in ihren Schoß, und die Frau tat ihre Hand über seine Augen, denn die Sonne blendete ihn. Das Fell, das sie trug, roch wie die Felle, die Adam und Eva trugen. Alle Aufgeregtheit und Anspannung ließen von Abel ab. Ein Friede war in ihm, wie er ihn nicht kannte. Abel vergaß alles um sich herum. Er schlief ein, und als er erwachte, wußte er zuerst nicht, wo er war, und er wußte nicht, wer er war. Und es tat ihm weh, als ihm alles wieder einfiel.
    Seine Herde hatte nach ihm gerufen. Er mußte sich um seine Tiere kümmern, und er mußte nach Hause zu seiner Familie. Zum Abschied legte er seine Wange an die Wange der fremden Frau. Dann ging er.
    Abel konnte nichts für sich behalten, das Glück schon gar nicht. Als er wieder zu Hause war, nahm er seinen Bruder Kain beiseite.
    »Geh morgen mit mir auf die Weide«, sagte er.
    »Warum? Was soll ich dort?« fragte Kain. »Ich kann nicht mit Tieren umgehen.«
    »Das brauchst du auch nicht«, sagte Abel. »Ich will dir etwas zeigen.«
    Kain wollte das nicht. Das heißt, er wollte es schon, er war vielleicht kein neugieriger Mensch, nicht so neugierig wie Abel, das sicher nicht, aber er wußte, wenn ihm sein Bruder etwas zeigen wollte, dann war das auch wert, gesehen zu werden. Aber was immer es war, so dachte Kain, es wird ein neuer Beweis dafür sein, wie sehr Abel von Gott geliebt wird. Er gönnte seinem Bruder alles Glück. Aber er selbst hätte eben auch gern ein Stück davon gehabt, einmal wenigstens, nur ein kleines Stück wenigstens. Er fürchtete sich vor dem Neid. Er fürchtete, der Neid könnte sich in sein Herz schleichen und es vergiften. Darum wollte er nicht mit Abel gehen, obwohl er mit ihm gehen wollte. Darum wollte er nicht sehen, was ihm sein Bruder zu zeigen hatte, obwohl er es sehen wollte.
    »Ich habe keine Zeit«, sagte er.
    »Das ist nicht wahr«, sagte Abel. »Seit du den Pflug hast, hast du Zeit.«
    »Seit du mir den Pflug gegeben hast, meinst du.«
    »Was spielt das für eine Rolle.«
    »Für dich spielt es keine Rolle«, sagte Kain. »Wie schön wäre es, wenn ich dir auch einmal etwas geben könnte.«
    »Dann komm mit mir«, sagte Abel. »Laß einen Tag die Feldarbeit ruhen. Schenk mir diesen einen Tag.«
    Da wußte Kain wieder einmal

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