Geschichten von der Bibel
nicht, was er antworten sollte. Und am nächsten Tag begleitete Kain seinen Bruder Abel. Die Herde blieb zu Hause.
»Du sollst mir ja nicht bei der Arbeit zusehen«, sagte Abel, »sondern ich will dir etwas zeigen.«
Es war ein weiter Weg, und erst am Abend kamen sie bei der Mauer an. Abel, der gute Augen hatte, sah die Frau lange, bevor Kain sie sah. Sie schlichen sich heran und versteckten sich hinter Bäumen und Sträuchern.
»Sie wollte ich dir zeigen«, sagte Abel. »Sie ist wie das Glück selbst. Ich habe meinen Kopf in ihren Schoß gelegt, sie hat ihre Hand über meine Augen getan, denn die Sonne hat mich geblendet. Ich bin eingeschlafen, und als ich aufwachte, wußte ich nicht, wo ich bin, und ich wußte nicht einmal, wer ich bin. Und es hat mir weh getan, als ich mich wieder daran erinnerte. So schön ist es gewesen.«
Kain war aufgeregt. Der Anblick der Frau, die dort an der Mauer saß, berührte ihn tief. Er war verwirrt.
»Was ist das überhaupt für eine Mauer?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte Abel.
»Hast du die Frau nicht gefragt?«
»Sie redet nicht. Sie hat mir keine Antwort gegeben.«
»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Kain.
»Wir gehen zu ihr«, sagte Abel. »Wir setzen uns neben sie, ich zu ihrer Rechten, du zu ihrer Linken.«
»Das will ich nicht«, sagte Kain.
»Aber warum denn nicht?«
»Ich will es nicht.«
»Aber was willst du? Ich habe dich hierher geführt, damit du wie ich das Glück spüren kannst, das im Gesicht und in den Händen dieser Frau liegt. Wir haben den weiten Weg bis hierher zurückgelegt. Und jetzt willst du nicht?«
Schließlich sagte Kain: »Ich will allein zu ihr.« Ganz leise sagte er es.
O ja, wir können ihn verstehen! Was wird sein, dachte Kain, wenn wir uns beide neben sie setzten? Was wird dann sein? Wer von uns wird seinen Kopf in ihren Schoß legen dürfen? Wem wird sie die Hand über die Augen tun, damit ihn die Sonne nicht blendet? Sie wird sagen, einer von euch ist zuviel. Welcher ist zuviel? Einen wird sie von sich stoßen. Wen? Wen wohl!
Und Abel erriet, was sein Bruder dachte, und auch er konnte ihn verstehen.
»Gut«, sagte er. »Geh allein zu ihr. Ich warte hier.«
»Warte nicht auf mich«, sagte Kain, und er sagte es in einem barschen Ton. »Geh wieder nach Hause und kümmere dich um deine Tiere.«
Abel zuckte mit den Schultern und ging. Er wußte, Kain an seiner Stelle hätte ihn, Abel, nicht allein zu dieser Frau gelassen. Aber er dachte sich, Kain hat kein Glück, ich habe Glück, er hatte nie Glück gehabt, ich immer, mich liebt Gott, ihn liebt er nicht. Und Abel machte sich auf den Weg nach Hause.
Kain aber ging zu der Frau, die bei der Mauer saß, die den Rücken an die Steine gelehnt hatte, und er setzte sich neben sie.
»Ich bin Kain«, sagte er, und er fragte nicht, wer sie sei. »Mein Bruder hat von dir erzählt«, sagte er, und er sagte nicht, was Abel erzählt hatte. »Ich möchte meinen Kopf in deinen Schoß legen. Und ich möchte, daß du deine Hand über meine Augen legst.«
Es war alles so, wie Abel erzählt hatte. Kain roch den Duft des Fells, er wurde ruhig, alle Bitternis schwand aus ihm, sein Herz, das eng geworden war, weil sein Auge nicht weiter gesehen hatte als bis zum harten Boden vor seinen Füßen, sein Herz öffnete sich. Es tat ihm leid, daß er so grob mit Abel geredet hatte. Es tat ihm leid, daß sein Bruder nicht auf ihn wartete, denn er hätte gern mit ihm gesprochen, hätte ihn gern umarmt.
So schlief Kain im Schoß der Frau ein, und es war ihm, als läge er im Paradies, diesem wunderschönen Garten, von dem seine Eltern manchmal am Abend sprachen wie von einem Traum.
Kain erwachte und machte sich auf den Weg nach Hause. Er hoffte, er würde seinen Bruder noch antreffen, hoffte, daß Abel noch nicht mit seiner Herde aufgebrochen war. Kain wollte Abel danken. Weil er mit ihm das Paradies geteilt hatte. Oder wenn schon nicht das Paradies, so doch eine Ahnung davon.
»Abel!« rief er, als er zu den Hütten kam. »Abel! Wo bist du, Bruder, daß ich dich umarmen kann!«
Aber Abel war bereits mit seinen Herden losgezogen, und es war wahrscheinlich, daß er Tage, ja Wochen unterwegs sein würde. Da sei Kain auf die Knie gefallen, heißt es in einer Legende, und er habe zum ersten Mal in seinem Leben die Augen nicht auf den Boden gerichtet, sondern zum Himmel, und er habe gebetet.
»Beschütze meinen Bruder«, habe er zu Gott gebetet.
Und im selben Augenblick sei ein Gewitter losgebrochen.
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