Geschlossene Gesellschaft
überlassen - oder den Rachegelüsten einer Tochter. Ich musste herauskriegen, was sie dachte. Das war der Grund für mein Verhalten vom Montagabend, jedenfalls redete ich mir das ein.
Nach dem Dinner begleitete ich sie auf ihr Zimmer. In den vorherigen Nächten hatte ich mich vor der Tür verabschiedet. Heute nicht.
»Darf ich hereinkommen?«
»Selbstverständlich. Aber...«
Die Tür fiel hinter uns ins Schloss. Diana stand sehr dicht bei mir und atmete flach und nervös. Sie war wunderschön in ihrem tintenblauen Kleid. Und so begehrenswert. Und ich hatte die perfekte Ausrede. »All die Male in Venedig«, sagte ich und schaute in ihre einladend blickenden Augen. »Es war von Mal zu Mal besser. Ich kann nicht vergessen, was wir taten. Kannst du es? All die Arten, wie wir uns geliebt haben.«
»Geliebt? Haben wir das getan?«
»Nicht?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist das Wort nicht wichtig.«
»Sondern der Akt?«
»O ja, Guy.« Sie nahm meine Hand, führte sie zu ihrer Brust und presste sie gegen die aufgerichtete Knospe. »Der Akt zählt. Er ist alles.«
Alles ? Nein, aber fast. Er war etwas sehr Wertvolles, etwas, was ich weder vergessen noch bedauern konnte, als ich ihr die Kleider auszog und sie nahm, wundervoll langsam und genussvoll mit ihr schlief, in dieser Dubliner Nacht. Und wieder und noch einmal.
»Ich habe mich so sehr danach gesehnt.«
»Warum?«
»Es beweist, dass ich recht hatte. Ich habe mich damals für Max entschieden, Guy, weil ich fürchtete, dass du mir zu wichtig werden könntest.«
»Noch eine Lüge?«
»Nein. Diesmal nicht. Keine Lüge. Es ist die Wahrheit.«
Die Wahrheit? Vielleicht. Vielleicht aber war die Wahrheit die einzige Intimität, die sie zurückhielt, der »achte Schleier«, den sie niemals fallen ließ. Nach dem Schock darüber, das gefunden zu haben, was wir beide so sehr gesucht hatten, wartete hinter der langsam abebbenden Ekstase wieder der Zweifel.
Am nächsten Morgen, während sie badete, durchsuchte ich ihr Gepäck nach einem Brief von Charnwood. Es war keiner da, dafür fand ich etwas wesentlich Schlimmeres, etwas Kaltes und Hartes unter einem seidenen Negligé in der untersten Schublade einer Schlafzimmerkommode. Es war eine Pistole, eine brandneue Derringer. Und sie war geladen.
Während des Frühstücks täuschte ich Kopfschmerzen vor und zog mich mit der Behauptung in mein Zimmer zurück, dass ich nach ein paar Stunden Ruhe wieder auf dem Damm sei. Kaum war ich allein, schlüpfte ich aus dem Hotel, indem ich den Dienstbotenaufzug und einen Seitenausgang zur Kildare Street benutzte. Dann ging ich zum Hauptpostamt.
Der Angestellte, mit dem wir am Samstag geredet hatten, war nicht zu sehen, und derjenige, der mich bediente, schien ein Ausbund an Rechtschaffenheit zu sein. Meine Bitten wegen einer Sache auf Leben und Tod rührten ihn nicht. Namen und Adressen der Schließfachbesitzer seien ein geheiligtes Geheimnis. Meine Hinweise auf ein Bestechungsgeld machten die Sache nur noch schlimmer. Am Ende hatte ich Glück, dass ich entkam, ohne die Polizei am Hals zu haben.
Ich entschied mich, mein Glück im Sortierungsbüro in der Sheriff Street zu versuchen, zu dem mir ein Fußgänger den Weg beschrieb. Es lag eine halbe Meile östlich, hinter der Amiens-Street-Eisenbahnstation. Ich ging über die O'Connell Street und blieb in der Mitte stehen, um eine Straßenbahn vorbeirattern zu lassen. Ob sie ihn wirklich umbringen wollte ? Wollte sie ihn so endgültig für den Tod ihrer Mutter zur Verantwortung ziehen? Wenn ja...
»Entschuldigen Sie, Sir.« Der Bitte der hohen Jungenstimme folgte ein Zupfen an meinem Ärmel. »Was, zum Teufel, willst du?« fuhr ich ihn an. Nach seinen zerrissenen Kleidern und seinem aufdringlichen Gesicht zu urteilen, war die Antwort klar. Doch ich irrte mich.
»Das hier ist für Sie, Sir.« Er drückte mir einen weißen, unbeschrifteten Umschlag in die Hand. »Von dem Gentleman da drüben.«
»Welchem Gentleman?«
»Der alte Kerl vor dem Metropole.« Er deutete auf das Hotel gegenüber dem Hauptpostamt und kratzte sich dann den Kopf. »Na ja, vor einem Moment war er noch da.«
»Alt, sagst du?«
»Weißhaarig und Brite, wie Sie.«
Ich rannte zu dem Hotel hinüber und schaute in beide Richtungen, überprüfte dann die Seitenstraßen südlich und nördlich. Nichts, kein Zeichen. Keine Spur. Ich ging wieder zurück zum Hauptpostamt. Da war er genauso wenig wie im palmengeschmückten Foyer des Metropole, wo ich mich in einen
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