Geschlossene Gesellschaft
furchtbare Jahre damit vergeudet hatte, den dunkel gekleideten Aufseher über hundert streitlustige Korsettmacherinnen darzustellen. Dann wandte ich mich nach Süden, ging die ruhige halbe Meile baumgeschützter Häuser entlang, an deren entferntem Ende ein alter Mann und seine nicht mehr so junge Tochter wohnten. Vor dreiundzwanzig Jahren waren wir zum ersten Mal diese Straße gegangen, um das Grundstück zu besichtigen, das die Firma uns so großzügig angeboten hatte, als sie nach Letchworth umgezogen war. Wir hatten versucht, uns gegenseitig Mut zu machen, aber damals war alles so kahl gewesen, so flach und unbeseelt. Und so wirkte es immer noch auf mich, trotz all der sauberen Straßen und der selbstgefällig gewinkelten Dächer. Die Gartenstadt blieb in meinem Gedächtnis, was sie immer gewesen war: eine Einöde.
Und dann war ich da, neben einer Lorbeerhecke und einem Schotterweg, die ich beide nie vergessen konnte, so sehr ich mich auch darum bemühte. Gladsome Glade, »Freudenreiche Lichtung«, verkündete das Schild mit eigensinniger Absurdität. Auf ein freudiges Willkommen durfte ich nicht hoffen.
Meine Schwester öffnete auf mein Klingeln. Ich sah sie durch die Milchglasscheibe den Flur entlangkommen, ein verwirrendes Abbild meiner Mutter. Als sie die Tür aufmachte, starrten wir uns einen Moment an, ohne etwas zu sagen. Ich sah eine ältlich gekleidete vierzigjährige Frau mit grauen Streifen in ihrem Haar und Falten um die Augen. Sie sah ihren sechs Jahre jüngeren Bruder, einen gutaussehenden Mann, der zurückhaltend lächelte. Er würde nie erlöst werden, war jedoch ohne Schande. »Guy! Wie schön, dass du vorbeikommst!«
Ich fühlte, wie mein Lächeln erstarrte. »Hallo, Maggie. Habt ihr mich erwartet?«
»Felix hat uns von deinem Besuch erzählt. Dad glaubte, dass er ihn sich eingebildet hat. Ich nicht.«
»Nun, du hast Felix immer schon besser verstanden als wir anderen, nicht wahr?«
»Wirklich?« Sie dachte eine Sekunde darüber nach und schüttelte dann ein wenig gereizt den Kopf. »Aber komm um Himmels willen doch herein.« Ich trat an ihr vorbei in den Flur, und sie schloss die Tür hinter mir. »Ich weiß nicht, was Dad...« Sie brach im selben Moment ab, als ich den Flur entlang schaute und ihn in der Tür zum Wohnzimmer stehen sah. Er schaute mich mit seinen wässrigen Augen an.
»Hallo, Dad«, brachte ich heraus.
Seine einzige Antwort bestand aus einem Nicken. Sein Haar war weißer, als ich es in Erinnerung hatte, und seine Haltung gebückter. Seine Kleidung war abgetragener, als meine Mutter es jemals toleriert hätte. Er kratzte sich nachdenklich das Kinn, ohne den Blick von mir abzuwenden, drehte sich dann um und ging in das Zimmer zurück.
Maggie und ich tauschten einen vielsagenden Blick. Dann lächelte sie das erste Mal und küsste mich leicht auf die Wange. »Du siehst gut aus, Guy«, sagte sie. »Besser, als du es verdient hast.«
»Muss mir wohl gut tun, nach Hause zu kommen.«
»Hoffen wir, dass eine Erklärung dir auch gut tut, denn du hast einiges nachzuholen.«
5
»Ja, das habe ich. Mehr, als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst.«
Meine Erinnerungen an unser Familienleben sind sehr schwach. Von meinem dreizehnten Lebensjahr an begann meine Neigung zu meinen Blutsverwandten zu verblassen. Damals bekam ich ein Stipendium für Winchester, und so trennte ich mich von den Mühen und Sorgen meiner Familie, die ich in Letchworth zurückließ. Was in Winchester begann, wurde in der Armee vollendet, und mein Versuch am Ende des Krieges, ein pflichtbewusster Sohn und demütiger Angestellter zu werden, war so vergeblich, wie es zu erwarten war.
Aus diesem Grund strahlte das Wohnzimmer von Gladsome Glade auf mich in dieser kühlen Augustnacht nicht diese magische Wärme von Zuhause aus. Und mein Vater, der wenig redete, dafür aber umso mehr missbilligende Mienen schnitt, versuchte auch nicht, sie zu erzeugen. Er hatte mich schon lange aufgegeben. Witwerschaft und Pensionierung schienen ihn nun auch mit allgemeiner Verzweiflung an der Welt zu erfüllen. Er hörte meinem Bericht der Geschehnisse mit einem ausgewogenen Ausdruck des Widerwillens und der Resignation zu. Erst als ich Charnwoods Ermordung enthüllte, kochte der Widerwillen in ihm über. Er erhob sich abrupt aus seinem Stuhl und stellte sich ans Piano. Dort fingerte er an seiner Pfeife herum und atmete schwer, während ich meinen Bericht beendete. Neben ihm, auf dem Klavier, standen drei Fotografien in
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