Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
denn in gewisser Weise hatte Victor immer etwas Autistisches. Im Grunde konnte er einem leidtun.«
»Und Ihre Mutter?«
»Mutter?«
Unwillig schüttelte die junge Frau ihr dunkles Haar, das den Kopf in einer Fülle von sich kringelnden Löckchen umgab.
»Ich habe nie eine richtige Mutter gehabt, eine, die ihr Kind umsorgt, es verteidigt, dafür kämpft wie die sprichwörtliche Löwin. Die Männer standen bei Dagmar stets an erster Stelle. Früher unser Vater, dann Victor. Ohne Mann war sie orientierungslos. Sie hat nie aufgemuckt, kritisiert oder sich gewehrt. Deshalb war ich für sie auch nur ein Störenfried. Meinen Bruder hat sie zumindest getröstet und verwöhnt, um mich hat sie sich irgendwann gar nicht mehr gekümmert. Wie gesagt, ich hab mir nichts gefallen lassen von Victor. Ich war ihm wohl zu anstrengend, und er ließ mich in Ruhe. Trotzdem bin ich mit 16 ausgezogen und in die Schweiz gegangen.«
»Und dort haben Sie Ihren Mann kennengelernt?«
»Ja. Offensichtlich war das Beispiel meiner Mutter nicht abschreckend genug. Kaum war ich volljährig, hab ich mit 18 sofort geheiratet«, nickte sie resigniert. »Aber den Herrn Stucki bin ich längst wieder losgeworden. Nur seinen Namen muss ich noch ablegen. Entschuldigung.«
Sie verschwand im Café, da ein Gast seine Rechnung verlangt hatte. Ein anderer Tisch bestellte Getränke nach.
»Und, was glaubst du? Warum wollte sie gestern Abend zu Hagebusch?«
»Phh«, machte Jansen ratlos. »Jedenfalls war er da ja schon längst tot. Vielleicht wollte sie ihn wirklich nur mal wieder besuchen.«
»Also reiner Zufall, meinst du«, Angermüller seufzte. »Ich kann das Wort bald nicht mehr hören.«
»So, da bin ich wieder. Haben Sie noch Fragen? Ich habe nämlich noch einiges zu tun.«
Lina Stucki stand abwartend in der Türöffnung. Sie war nicht sehr groß und ziemlich schmal.
»Wann genau hat Ihr Bruder Ihnen von Hagebuschs Tod berichtet?«
»Als ich gestern Abend aus Lübeck zurückgekommen bin. Wir hatten uns vorher noch gar nicht gesehen, seit er hier ist.«
»Haben Sie ihn besucht?«
»Ich betrete das Haus von Dagmar nicht mehr. Lorenzo kam zu mir nach Hause.«
»Was genau hat er Ihnen erzählt?«
Sie sah dem Kommissar gerade ins Gesicht.
»Das, was er von Ihnen erfahren hatte, nehme ich an. Und er war kein bisschen traurig. Aber das wissen Sie wahrscheinlich auch schon.«
»Noch einmal zurück zu Ihnen. Sie sind also gestern Abend nach Lübeck gefahren mit der Absicht, Victor Hagebusch zu besuchen?«
Ihr Kopf drehte sich wieder weg in Richtung Gastraum.
»Nö. Ich wollte mir ein bestimmtes Kochbuch in einer Buchhandlung ansehen, und dann war das so ein spontaner Einfall.«
»Und wo waren Sie vorgestern Abend?«
»Vorgestern?«
Mit der Frage schien sie nicht mehr gerechnet zu haben.
»Da habe ich mich mit ein paar alten Freunden getroffen.«
»Wo, wann genau und mit wem?«
Ihrem Blick war anzumerken, dass Lina Stucki die Frage nicht passte.
»Das war irgendwo in Sankt Lorenz, in der Nähe vom Bahnhof.«
»Sie waren vorgestern Abend auch in Lübeck?«
Es gelang Angermüller nicht ganz, sein Erstaunen zu verbergen.
»Ja, da war ich auch in Lübeck, stellen Sie sich vor«, kam es etwas gereizt. »Wir haben Moni und Uli in ihrer neuen Wohnung besucht. Kai ist gefahren, der kommt auch aus Kellenhusen. So bei acht rum waren wir da. Kai kann Ihnen bestimmt auch genau sagen, wie die Straße heißt, wenn Sie das unbedingt wissen müssen.«
Auf Nachfrage nannte sie die vollständigen Namen aller sieben Freunde, die an dem Abend dabei gewesen waren.
»Gab es einen besonderen Anlass für dieses Treffen?«
»Sich halt wieder mal sehen, quatschen«, meinte sie leichthin. »So gegen Mitternacht war ich wieder zu Hause. Ach nein, stimmt ja gar nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin noch hierher und habe die Rote-Bete-Suppe vorbereitet. Genau. Erst nach zwei war ich bei mir zu Hause.«
Als Angermüller noch fragte, ob sie eine Vorstellung habe, wer Victor Hagebusch getötet haben könnte, ließ sie nur die Schultern fallen und blickte zu Boden. Auch wenn der Kriminalhauptkommissar das Gefühl hatte, nicht alles erfahren zu haben, was diese Zeugin ihnen hätte mitteilen können, blieb ihm und Jansen nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden und die Rückfahrt in die Hansestadt anzutreten. Es war mittlerweile dunkel geworden. In der Bezirkskriminalinspektion fanden sie sich mit den Kollegen zu einer kleinen Lage zusammen, um ihre
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