Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
dass sie es auch einmal schön gehabt hatte an diesem Ort.
Die Klingel. Der Gong war immer noch derselbe wie damals. Eine ältere, etwas korpulente Frau öffnete.
»Ja bitte?«
»Guten Abend, ich bin … ich wollte zu Frau Hagebusch. Sie hat mich vorhin angerufen.«
»Alina, du bist das!«
Ein freudiges Lächeln überzog das Gesicht der Frau.
»Ich hab dich nicht gleich wiedererkannt! Ist ja auch ewig her. Du weißt wahrscheinlich gar nicht mehr, wer ich bin.«
»Doch. Tante Christa«, sagte Lina, die sich plötzlich erinnerte und sich im selben Moment wieder wie ein kleines Mädchen fühlte.
»Komm her, min Deern!«
Christa Baldauf nahm Lina in ihre Arme und drückte sie ausgiebig. Als sie sich wieder löste, fuhr sie sich kurz mit der Hand über die Augen.
»Schön, dass du gekommen bist. Deiner Mutter geht’s nicht gut. Aber jetzt komm erst mal rein. Ist ja ziemlich ungemütlich so auf der Schwelle. Ach Gott, wer seid ihr denn?«
Erst jetzt sah die Nachbarin die beiden Hunde, die brav hinter Lina gewartet hatten.
»Das sind Teufel und Madame. Dürfen die mit reinkommen?«
»Aber natürlich! Das ist ja ein Zufall. Dagmar hat mir grad vorhin erzählt, dass sie sich auch einen Hund anschaffen will.«
Lina konnte sich an Zeiten erinnern, da war an ein Tier im Haus nicht zu denken gewesen. Überhaupt spürte sie mit Macht ihre Erinnerungen hochkommen und fragte sich nun doch, ob die Entscheidung, dem Ruf hierher zu folgen, die richtige gewesen war. Aber als Dagmar ihr gesagt hatte, es sei etwas Schreckliches passiert und sie müsse sofort kommen, da war sie ohne weiter zu überlegen zu ihrem Wagen gerannt.
»Kind, wie geht’s dir?«
Die Frau, die auch damals schon mit ihrem Mann im Nachbarhaus gewohnt hatte und die für Lina fast so eine Art Mutterersatz gewesen war, die sie um Rat fragen und bei der sie sich ausheulen konnte, warf unter der Flurlampe einen prüfenden Blick auf Lina. Die hob nur ein wenig hilflos die Schultern.
»Gut siehst du aus! Bisschen mager vielleicht, aber hübsch! Leg doch ab. Ich find’s wirklich echt klasse von dir, dass du hergekommen bist«, bekräftigte Christa Baldauf noch einmal.
»Tante Christa, das ist alles für mich nicht so einfach, weißt du«, setzte Lina an, doch die Nachbarin unterbrach sie, nahm ihre Hand und tätschelte sie beruhigend.
»Min Deern, du brauchst mir nichts zu erklären. Ich weiß, was du meinst. Aber du wirst sehen, das wird schon irgendwie.«
»Was ist denn eigentlich los? Warum hat sie mich überhaupt angerufen?«
»Die Polizei hat deinen Bruder mitgenommen.«
»Was? Warum?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Lorenzo hat bei mir geklingelt, zwei Beamte waren dabei, und er hat mich gebeten, mich um Dagmar zu kümmern, weil er jetzt mit der Polizei mal eben nach Lübeck fahren müsste. Ich hab keine Ahnung, für wie lange. Und außer, dass mir deine Mutter dann erzählt hat, dass euer Stiefvater tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde, weiß ich gar nichts.«
»Oh Gott! Lorenzo? Der kann doch aber mit Victors Tod gar nichts zu tun haben!«
Verzweifelt blickte Lina zu der Nachbarin, die mit den Schultern zuckte. Christa Baldauf war so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Mich darfst du nicht fragen. Willst du gleich mal zu deiner Mutter? Sie liegt im Schlafzimmer, aber sie schläft nicht. Ohne Pillen kann sie nämlich gar nicht mehr schlafen. Dagmar nimmt sowieso viel zu viel von dem ganzen Giftzeug. Sie hätte schon vor Jahren mal eine richtige Therapie machen müssen! Aber das ist ein anderes Thema.«
Langsam ging Lina ins Wohnzimmer. Hier hatte sich fast nichts verändert. Die beiden Sofas standen noch wie damals parallel vor dem großen Fenster. Sogar der Geruch war der gleiche wie früher, so eine eigentümliche Mischung nach Holz, frisch gewaschener Wäsche und Äpfeln. Gleich nebenan war das Schlafzimmer, auch noch genau wie früher. Neugierig pirschten die Hunde vor, Teufel stieß mit dem Kopf die angelehnte Tür auf, und schon waren die beiden Tiere hineingeschlüpft.
Vorsichtig öffnete Lina die Tür ganz. Eine Nachttischlampe brannte. Dagmar lehnte im Bett, mehrere Kissen im Rücken. Sie sah blass aus und erschreckend alt und hilflos. Für diese Hilflosigkeit hatte Lina ihre Mutter immer gehasst. Eine Mutter hatte für ihr Kind da zu sein, es zu beschützen, es zu bestärken, es zu lieben. All das hatte Lina vermisst. Sie musste immer allein mit allem fertig werden, sich durchbeißen, sich durchsetzen.
Teufel und
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