Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
gesagt. »Mal muss ich mir doch was gönnen. Kinder hab ich nich – und für wen soll ich sparen? Oder, Lina?«
Lina war das nur recht. Sie stellte zwei neue Flaschen Prosecco auf den Tisch und fragte, ob alles so in Ordnung sei. Der Tisch bog sich unter der Speisenvielfalt: Omelette mit Gemüsefüllung, Mozzarella-Auflauf, russische Lachspastetchen, zwei Salate, Makrelenmousse, Käseauswahl und noch mehr, nicht zu reden von einer hoch aufgetürmten Schokoladensahnetorte und zwei Kuchen – die Damen speisten hochzufrieden.
Monika Harksen sah blendend aus mit ihrer modischen Kurzhaarfrisur und den sportlichen Klamotten. Die Lippen hatte sie in einem frischen Rot geschminkt, passend zur Farbe ihrer Nägel. Na ja, es war vielleicht ein bisschen zu viel des Guten, aber wenn Lina dagegen an Dagmar dachte, die sogar zwei Jahre jünger war … Immer noch spürte sie das Erschrecken, als sie nach fast 18 Jahren gestern Abend ihrer Mutter gegenübergetreten war und eine alte Frau vorgefunden hatte. Im selben Moment waren ihr die Wut und der Hass, die sie all die Jahre beim Gedanken an ihre Mutter empfunden hatte, irgendwie unangebracht erschienen. Diese kranke, graue Frau war keine gleichwertige Gegnerin, gegen so jemanden brauchte sie nicht mehr kämpfen. Dagmar war schon längst besiegt, von sich selbst, von ihrem eigenen Leben. Sie kam Lina vor wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln, der verängstigt im Nest hockte und aus eigener Kraft nicht mehr davonfliegen konnte. Nicht dass Lina jetzt ihrer Mutter die Gefühle einer Tochter entgegengebracht hätte, das konnte sie nicht. Vielleicht war es dafür nur zu früh, vielleicht aber würde sie das nie können, aber zumindest konnte sie Dagmar wieder begegnen und mit ihr reden, ganz normalen, menschlichen Umgang pflegen.
Natürlich hatte eine große Verlegenheit über dem Beginn ihrer gestrigen Begegnung gelegen. Niemand hatte Lina beigebracht, wie sie sich in so einem Moment verhalten sollte, noch hatte sie selbst sich je Gedanken darüber gemacht, so unwahrscheinlich war ihr ein Wiedersehen erschienen. Zum Glück hatte Christa Baldauf mit ihrer bodenständigen Art die Situation etwas aufgelockert. Sie hatte einen Tee gekocht und sich dazugesetzt, im richtigen Moment die richtigen Fragen gestellt oder ein neues Thema angesprochen. Auch Teufel und Madame hatten mit ihrem Spieltrieb und ihrem Betteln um Aufmerksamkeit ihren Teil dazu beigetragen, peinliche Stille zu vermeiden. Und schließlich hatte die gemeinsame Sorge um Lorenzo alles andere überschattet. Sollten sie bei der Polizei anrufen, sollten sie einen Anwalt einschalten? Sie setzten sich eine Frist, nach der sie tätig werden wollten, sollten sie von Lorenzo bis dahin nichts gehört haben.
Doch dann meldete er sich über sein Handy und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit voller Ängste und Sorgen, kam er wieder nach Hause. Er sah geschafft aus, war aber unheimlich aufgedreht und schien sich sehr über Linas unerwartete Anwesenheit im Haus der Mutter zu freuen.
»Ihr wollt jetzt bestimmt mal unter euch sein«, bemerkte die Nachbarin irgendwann und zog sich diskret nach Hause zurück.
Dagmar war aus dem Bett aufgestanden, als ihr Sohn endlich heimgekommen war. Lorenzo wollte erst einmal nur reden, alles loswerden, über den Montagabend in Lübeck, über seine Stunden bei der Polizei. Auch wenn sich das alles etwas verrückt anhörte, was Fabian und Lorenzo zusammen verzapft hatten, der Drohbrief, die Hasskappen – Lina glaubte ihrem Bruder. Dagmar schien vieles von dem, was er sagte, gar nicht zu verstehen, Lina aber wurde langsam klar, wie krank ihre Mutter inzwischen tatsächlich war, ob von den vielen Psychopharmaka oder aus anderen Gründen. Als er alles erzählt hatte, verlangte Lorenzo nach Essen. Jetzt, wo der Stress von ihm abgefallen war, hatte er Hunger. Lina hatte die Vorräte durchsucht und schließlich Spaghetti gekocht und frische Butter darüber schmelzen lassen. Ein Stück Parmesan zum Darüberreiben fand sich auch noch im Kühlschrank, und so hatten sie zu dritt in der Küche gegessen. Wäre es nicht unter diesen Vorzeichen gewesen, hätte man fast von einem gemütlichen Abend reden können.
Lina versorgte die Damen der Geburtstagsgesellschaft mit neuen Getränken. Dann stand sie am Fenster und sah hinaus in den kalten Vormittag. Die Lübecker Zeitung hatte heute über Victors gewaltsamen Tod berichtet. Doch Genaueres über die Tat und irgendwelche Verdächtige war nicht erwähnt worden.
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