Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
Nur die langjährige Tätigkeit Victors für das Blatt hatten sie hervorgehoben. Hoffentlich hat das jetzt bald ein Ende, dachte Lina, dass wir uns auch noch nach seinem Tod ständig mit Victor auseinandersetzen müssen. Vielleicht würde seine Ermordung publizistisch noch ein paar Wellen schlagen, doch wenn er dann endlich unter der Erde war, dann war es wohl vorbei. Wer würde sich um seine Beerdigung kümmern? Dagmar etwa? Oder gab es noch andere Verwandte? Lina wusste es nicht.
Glänzende Wolkenschichten verbargen die Novembersonne, die den Horizont über der Ostsee rosa färbte. Der Strand lag einsam da. Bis auf zwei Männer, die langsam näher kamen, war auch auf der Promenade niemand unterwegs. Plötzlich brach die Sonne durch. Geblendet von der unerwarteten Helligkeit wandte Lina den Kopf. Die Tür vom ›Torten, Suppen, Meer‹ wurde geöffnet, und die zwei Männer von der Promenade betraten das Café. Der Kochrezepte sammelnde Kommissar grüßte freundlich, sein mürrischer Kollege nickte nur mit dem Kopf. Beide guckten sie so komisch an, fand Lina. Ihr schwante nichts Gutes. Es war doch noch nicht vorbei.
Keine fünf Minuten dauerte es, da erschien das junge Mädchen, das Angermüller und Jansen schon bei ihrem ersten Besuch im Café gesehen hatten.
»Okay, Dany, schreib einfach alle Getränke und Extras auf, die Frau Harksen und ihre Gäste bestellen. Ich mach die Abrechnung mit ihr dann morgen. Wenn du die Hunde so in zwei Stunden mal raus lässt, das reicht. Aber so lang wird das ja hoffentlich jetzt nicht dauern.«
Die Chefin vom ›Torten, Suppen, Meer‹ warf einen schnellen Seitenblick auf die Beamten.
»Den Schlüssel hast du ja auch, falls du doch abschließen musst, und wenn sonst noch was ist, Handy hab ich dabei. Und vielen Dank, Dany, dass du so spontan eingesprungen bist!«
Auf dem kurzen Weg zu dem Apartmenthaus, wo Lina Stucki in Kellenhusen lebte, beobachtete Angermüller die junge Frau im Rückspiegel. Ihre dunklen Locken hatte sie heute im Nacken zusammengebunden. Ihr Kopf war zur Seite gedreht, und sie hielt den Blick auf die Häuser rechts der Straße gerichtet. Äußerlich machte sie einen gefassten Eindruck, nur ihr schneller Lidschlag verriet, dass es in ihrem Inneren wohl etwas anders aussah. Noch im Café hatten die Beamten Lina Stucki den neongrünen Speicherstick präsentiert. Sie hatte nicht sehr überrascht gewirkt.
»Ja, der ist von mir. Aber der hat mit Victor nichts zu tun!«
»Tschuldigung?«, hatte Jansen ziemlich ungnädig protestiert. »Bei Hagebusch ham wir dat Ding doch gefunden!«
»Ich weiß.«
Die Caféchefin hatte unruhig zu ihren Gästen geschaut, die sich an der Geburtstagstafel scheinbar gut unterhielten.
»Ich meine doch nur, er hat nichts mit seinem Tod zu tun. Aber das ist eine längere Geschichte. Das kann ich Ihnen jetzt hier nicht erzählen.« Und ohne dass Angermüller oder Jansen noch etwas gesagt hätten, hatte sie sofort ihre Aushilfe angerufen.
Die kleine Wohnung lag zu ebener Erde, hatte zwei Zimmer, Küche, Bad, war sparsam und unspektakulär eingerichtet, wirkte dabei aber recht wohnlich. Im großen Raum, der offenbar als Wohn-, Arbeits- und Esszimmer diente, gab es einen Schreibtisch mit Computer, einen Esstisch sowie eine Couch und mehrere Sessel. Durch eine Tür konnte man in den Garten hinter dem Haus gelangen, der hauptsächlich aus Rasen und Büschen bestand. Zwei Amaryllen blühten auf der Fensterbank, und an der Wand hingen ein paar Plakate. Auf dem einen war eine Kuh zu sehen, über deren ganze Körperseite ein Scanner gedruckt war, darunter augenscheinlich der Titel eines Films namens ›Food Inc.‹, ein anderes forderte unter dem Abbild eines durchgekreuzten Tiefkühlhuhns zu einer Demonstration auf mit dem Motto ›Bauernhöfe statt Agrarfabriken‹. Sie nahmen am Esstisch Platz. Jansen legte den Datenstick vor Lena Stucki auf den Tisch.
»Na, denn vertelln Sie uns doch mal wat zu diesem Teil«, forderte er die junge Frau auf und schaltete das Diktiergerät ein. Er murmelte Ort, Datum, Uhrzeit und Anlass und verschränkte dann abwartend die Arme vor der Brust.
»Was möchten Sie denn wissen?«, kam es leise zurück. Man konnte Lina Stucki den Druck ansehen, unter dem sie zu stehen schien. Jansen stieß unmutig die Luft aus. Bevor sein Kollege die Zeugin mit seiner wenig zartfühlenden Art gänzlich abschrecken würde, schaltete Angermüller sich lieber selbst ein. Nach einer Kopfschmerztablette und reichlich
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