Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
voll geschminkt und so!«
»Ach, das war nur eine Kollegin«, sagte Angermüller leichthin. »Und jetzt wollen wir endlich essen.«
Kapitel XII
Der eisige Wind war erbarmungslos. Er trieb das bisschen Schnee, welches sich auf dem Sand gesammelt hatte, vor sich her, er kniff einem in die Wangen und ließ die Ohren schmerzen. Er türmte die oft so gemütliche Ostsee zu hohen, grauen Wellen, denen er weiße Schaumkämme frisierte. Das Wasser machte er toben und brodeln, sodass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Ein wildes, ein ungestümes Wetter. Lina mochte das. Sie spürte die Kälte nicht. Während sie mit den Hunden über den Strand um die Wette rannte, fühlte sie sich frei und voller Energie, wie lange nicht mehr.
In ihrem Leben war Vieles passiert, das sie sich noch vor wenigen Wochen nie hätte vorstellen können. Wenn sie eines dabei gelernt hatte, dann, dass man nie nie sagen sollte, dass Unvorstellbares möglich war, dass es immer noch einen Weg gab, dass man einfach offen sein sollte für alles.
Es war ihr nicht leichtgefallen, aber natürlich hatte sie ihren Freunden beichten müssen, welche Riesendummheit sie gemacht hatte. Sie hatte die ganze Geschichte erzählt, von Victor, dem Video, seinem Tod, dem Putenzüchter und diesem Geflügelwurstproduzenten, der wohl der Haupttäter und flüchtig war. Natürlich hatten die meisten ganz schön sauer reagiert wegen ihres Alleingangs. Manche hatten ihr Vertrauensmissbrauch vorgeworfen. Und sie hatten ja recht, wie sie sich selbst eingestand. Aber Lina und ihre Mitstreiter hatten Glück, wenn man das so bezeichnen konnte, denn der Geflügelbauer saß in U-Haft und hatte ganz andere Probleme, als ausgerechnet die Tierschützer anzuzeigen, die bei ihm eingebrochen waren. Im Hinblick auf den weihnachtlichen Gänsebraten hatten die Freunde einige fantasievolle Aktionen gegen tierquälerische Massentierhaltung vorbereitet – offiziell angemeldete Aktionen – und Lina freute sich, dass man ihr verziehen hatte und auch sie wieder dabei sein sollte.
An einem trüben Novembertag, wie er charakteristischer für diesen Monat nicht hätte sein können, hatten sie Victor beerdigt. Natürlich war Lina die Vorstellung, für die letzte Ehre ihres Stiefvaters zu sorgen, irgendwie absurd vorgekommen, und anfangs hatte sie sich auch strikt geweigert, diesen Zirkus mitzumachen. Noch absurder war ihr erschienen, dass ausgerechnet Lorenzo sie dazu drängen wollte, sich daran zu beteiligen.
»Wenn jemand unter Victor zu leiden hatte, dann doch du!«
Für einen Augenblick schaute Lorenzo sie nur an.
»Und wenn mir damals jemand hätte helfen können, dann doch du, große Schwester«, sagte er daraufhin leise. Lina fühlte Bestürzung. So sah er das also. Nicht nur seine enge Beziehung zu Dagmar hatte immer zwischen ihnen gestanden. Er hatte sich von ihr als seiner Schwester im Stich gelassen gefühlt.
»Ich war allein, Lorenzo, ganz allein. Als Victor zu uns kam, war ich sieben Jahre alt. Ich hatte genug damit zu tun, mich selbst gegen ihn zu wehren. Du hattest wenigstens eine Mutter, die sich liebevoll um dich kümmerte, dich tröstete und pamperte. Ich war doch immer nur eine lästige Unruhestifterin für Dagmar, dieses widerborstige Mädchen, das ihrem glorifizierten harmonischen Familienleben im Wege stand. Bei dir hat sie wenigstens versucht, wieder auszubügeln, was ihr Herr und Gebieter angerichtet hatte. Aber dass du dich jetzt berufen fühlst, diesen Mann zu beerdigen, find ich echt daneben!«
»Ich verstehe gar nicht, was du hast«, widersprach er. »Schließlich hast du doch wieder Kontakt mit Victor aufgenommen und sogar mit ihm zusammengearbeitet!«
»Ich bin ihm zufällig begegnet, wie du weißt. Außerdem ging es nicht um ihn, sondern nur um die Sache der Tiere, die er mit seinen Medienkontakten gut hätte unterstützen können! Aber dass ausgerechnet du, der diesen Mann als ein echtes Monster verabscheut hat, dass du nun von mir forderst, ich soll an seinem Grab stehen und trauern, ist ja wohl der Gipfel der Inkonsequenz!«, regte sie sich auf.
»Ach, Lina! Ist dir noch nie aufgefallen, dass deine strikte Konsequenz manchmal ganz schön unmenschlich sein kann?«
Lorenzo hatte plötzlich seinen Arm um sie gelegt.
»So hartherzig bist du doch gar nicht, Schwesterchen. Dass du um ihn trauern sollst, verlangt ja auch niemand von dir oder mir. Und schließlich machen wir das nicht für Victor, sondern unserer Mutter zuliebe«, war Lorenzos nächstes
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