Geschöpfe der Nacht
ist sein Auge, und das andere kann man nicht sehen, weil er es zukneift. Der Bronzehaufen unten ist natürlich Hundescheiße, die eine scharfe Kritik des Werks darstellen soll – denn wie jeder weiß, sind Hunde die scharfsinnigsten aller Kritiker.«
Wenn der Schwung, mit dem Orson mit dem Schwanz wedelte, ein zuverlässiges Anzeichen war, gefiel ihm diese Interpretation ausgezeichnet.
Er trottete einmal um den Springbrunnen herum und betrachtete die Skulptur von allen Seiten.
Vielleicht wurde ich ja nicht deshalb geboren, um über mein Leben zu schreiben, nach irgendeiner universellen Bedeutung zu suchen, die anderen helfen könnte, ihr eigenes Leben besser zu verstehen – was in meinen egomanischeren Augenblicken eine Mission ist, die ich gern angetreten habe. Statt danach zu streben, auch nur die winzigste Spur auf der Welt zu hinterlassen, sollte ich vielleicht darüber nachdenken, ob der einzige Sinn meines Lebens nicht darin liegt, Orson zu unterhalten, nicht sein Herrchen, sondern sein liebender Bruder zu sein, ihm sein seltsames und schwieriges Leben soweit wie nur möglich zu erleichtern und so schön und lohnend zu machen, wie es nur sein kann. Damit hätte mein Leben einen so bedeutungsvollen und viel edleren Sinn als das manch anderer Menschen.
Orsons Schwanzwedeln erfreute mich mindestens so sehr, wie ihn meine neueste Verspottung der Skulptur erfreute. Ich sah auf die Armbanduhr. Knapp zwei Stunden verblieben noch bis zur Dämmerung.
Ich wollte noch zwei Orte aufsuchen, bevor die Sonne mich in mein Versteck trieb. Der erste war Fort Wyvern.
Vom Park an der Palm Street und dem Grace Drive im südöstlichen Viertel von Moonlight Bay dauert die Fahrt nach Fort Wyvern mit dem Rad keine zehn Minuten, auch wenn man ein Tempo einhält, das den vierbeinigen Bruder nicht ermüdet. Ich kannte eine Abkürzung durch einen Tunnel, der unter dem Highway l durchführt. Hinter dem Tunnel befindet sich ein offener, drei Meter breiter Entwässerungskanal aus Beton, der tief auf das Gelände des Militärlagers hinter dem – mit Stacheldraht besetzten – Maschendrahtzaun führt, der die Begrenzung der Einrichtung darstellt.
Überall am Zaun – und auf dem gesamten Gelände Fort Wyverns – warnen große, rote und schwarze Schilder davor, daß Unbefugte laut Bundesgesetz strafrechtlich verfolgt werden und die Strafe bei einer Verurteilung mindestens zehntausend Dollar Geldbuße und eine Haftstrafe von mindestens einem Jahr war. Ich habe diese Drohungen immer ignoriert, hauptsächlich, da ich weiß, daß kein Richter mich in Anbetracht meines Zustands wegen eines so kleinen Vergehens zu einer Gefängnisstrafe verurteilen würde. Und sollte es wirklich dazu kommen, kann ich mir die zehntausend Mäuse durchaus leisten.
Eines Nachts vor anderthalb Jahren, kurz nachdem Fort Wyvern offiziell für immer geschlossen worden war, trennte ich den Maschendrahtzaun im Entwässerungskanal mit einem Bolzenschneider auf. Die Gelegenheit, dieses riesige neue Reich zu erkunden, war zu verlockend, als daß ich ihr widerstehen konnte.
Falls Ihnen meine Aufregung seltsam vorkommt – vor allem, wenn man bedenkt, daß ich damals kein abenteuerlustiger Junge, sondern ein Mann von sechsundzwanzig Jahren war –, ist es Ihnen wahrscheinlich möglich, einfach in ein Flugzeug nach New York zu steigen, wenn Sie Lust dazu haben, aus einer Laune heraus nach Puerto Vallarta zu segeln oder mit dem Orient-Express von Paris nach Istanbul zu fahren. Wahrscheinlich haben Sie einen Führerschein und einen Wagen. Wahrscheinlich haben Sie nicht das ganze Leben innerhalb der Grenzen einer Stadt von zwölftausend Einwohnern verbracht und sie unentwegt des Nachts durchstreift, bis Sie jeden ihrer Winkel genauso gut kannten wie Ihr Schlafzimmer. Daher sind Sie wohl nicht ganz so verrückt auf neue Orte, neue Erfahrungen. Nennen Sie mich also ruhig einen Spinner.
Fort Wyvern, benannt nach General Harrison Blair Wyvern, einem hochdekorierten Helden des Ersten Weltkriegs, wurde 1939 als Ausbildungslager in Betrieb genommen. Es umfaßt 54 Hektar Fläche, womit es weder das größte, aber bei weitem auch nicht das kleinste Militärlager im Staat Kalifornien ist.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde in Fort Wyvern hauptsächlich am Panzer ausgebildet; die Soldaten wurden in der Bedienung und Wartung sämtlicher kettengetriebenen Fahrzeuge unterwiesen, die auf den Schlachtfeldern von Europa und Asien zum Einsatz kamen. Des weiteren gab es dort eine
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