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Geschöpfe der Nacht

Geschöpfe der Nacht

Titel: Geschöpfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Doch mehr als alles andere fürchtete er um mich, als sähe er ein anstürmendes Ungetüm, das ich noch nicht bemerkt hatte: ein großes, weißes Flammenrad, so riesig wie ein Berg, das mich zu Staub zermahlen und den Staub brennend hinter sich zurücklassen würde.
    »Was, wann, wo?« fragte ich mich.
    Orsons Blick war durchdringend. Anubis, der ägyptische Gott der Gräber mit dem Hundekopf, der die Herzen der Toten zählt, hätte nicht durchdringender starren können. Nein, mein Hund war keine Lassie, kein sorgenfreies Disney-Hündchen mit über die Maßen süßem Gebaren und unbegrenztem Sinn für dumme Streiche.
    »Manchmal«, sagte ich zu ihm, »bist du mir richtig unheimlich.«
    Er blinzelte, schüttelte den Kopf, sprang von mir weg und lief im Kreis um die Grabsteine, schnüffelte geschäftig am Gras und den gefallenen Eichenblättern und tat so, als sei er wieder lediglich ein Hund.
    Vielleicht war nicht Orson mir unheimlich. Vielleicht war ich selbst mir unheimlich. Vielleicht waren seine schimmernden Augen Spiegel gewesen, in denen ich meine eigenen gesehen hatte; und in der Reflexion meiner Augen hatte ich vielleicht Wahrheiten in meinem Herzen gesehen, die ich ohne Umweg nicht betrachten wollte.
    »Das wäre jedenfalls die Halloway-Interpretation«, sagte ich. Plötzlich war Orson ganz aufgeregt und stapfte durch einen zusammengewehten Haufen angenehm riechender Blätter, die noch feucht vom Nachmittagsguß durch die Sprinkleranlage waren, vergrub die Schnauze in ihnen, als wolle er Trüffeln aufspüren, puffte und schlug mit dem Schwanz auf den Boden.
    Eichhörnchen. Eichhörnchen haben sich gepaart. Eichhörnchen haben sich gepaart, genau hier. Eichhörnchen. Genau hier. Der Moschusduft von hitzigen Eichhörnchen, genau hier, Herrchen Snow, hier, komm her und riech mal, riech mal, schnell schnell schnell schnell, komm her und riech die Eichhörnchen, die sich hier gepaart haben.
    »Du bringst mich ganz durcheinander«, sagte ich zu ihm.
    Im Mund hatte ich noch immer den Geschmack eines tagelang nicht gesäuberten Aschenbechers, aber ich spuckte nicht mehr diese höllischen Schleimklumpen aus. Ich müßte mittlerweile imstande sein, zu Bobby zu radeln.
    Bevor ich mein Rad holte, richtete ich mich auf die Knie auf und drehte mich zu dem Grabstein um, an den ich mich gelehnt hatte. »Wie steht’s, Noah? Ruhst du noch immer in Frieden?«
    Ich war nicht auf die Stablampe angewiesen, um die Gravur auf dem Stein lesen zu können. Ich hatte die Aufschrift schon tausendmal gelesen und hatte stundenlang über den Namen und die Daten darunter nachgedacht.
    NOAH JOSEPH JAMES
    5. Juni 1888 – 2. Juli 1984
    Noah Joseph James, der Mann mit den drei Vornamen. Nicht dein Name erstaunt mich, sondern deine außergewöhnliche Langlebigkeit.
    Sechsundneunzig Lebensjahre.
    Sechsundneunzig Frühlinge, Sommer, Herbste und Winter.
    Entgegen aller entmutigender Aussichten habe ich bislang achtundzwanzig Jahre gelebt. Wenn die Glücksgöttin mir besonders gewogen ist, bringe ich es vielleicht auf achtunddreißig. Wenn die Ärzte schlecht prognostiziert haben sollten, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit aufgehoben werden sollten und das Schicksal Urlaub macht, werde ich vielleicht achtundvierzig Jahre alt. Dann hätte ich die Hälfte der Lebensspanne genossen, die Noah Joseph James gewährt worden war.
    Ich weiß nicht, wer er war, was er mit fast einem Jahrhundert hier auf der Erde angefangen hat, ob er eine Frau gehabt hat, mit der er sein Leben teilte, oder drei überlebt hat, ob die Kinder, die er gezeugt hat, Priester oder Serienmörder geworden sind, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich habe mir ein reiches und wundersames Leben für diesen Mann ausgedacht. Ich glaube, daß er weit gereist ist, auf Borneo und in Brasilien war, während des Jubilee in Mobile Bay und während des Mardi Gras in New Orleans, auf den sonnenverwöhnten griechischen Inseln und im geheimen Land Shangri-la hoch in den Bergfesten Tibets. Ich glaube, daß er wirklich geliebt hat und diese Liebe erwidert wurde, daß er ein Krieger und Dichter war, Abenteurer und Gelehrter, Musiker und Künstler und Seefahrer, der auf allen sieben Meeren heimisch war und kühn alle Beschränkungen – falls es überhaupt welche gab – abgeworfen hat, die man ihm auferlegt hat. Solange er für mich nur ein Name bleibt und ansonsten ein Geheimnis ist, kann er sein, was immer ich ihn sein lassen will, und ich kann stellvertretend sein langes, langes Leben in der

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