Geschöpfe der Nacht
damals im Lyzeum. Ihre Eltern waren zwei oder drei Jahre zuvor gestorben. Fragen Sie mich, was Sie sonst noch wissen wollen.«
»Sie können gleich aufstehen«, sagte ihre Stimme. »Lukas wird Sie zu mir ins Haus bringen. Wenn Sie Waffen bei sich haben, lassen Sie sie draußen.«
»Ich habe keine«, sagte er.
Wieder dieses seltsame Wispern wie von einer Brise im Gras, das sich von ihm entfernte. Er beobachtete Lukas.
Nach ungefähr einer Minute trat der Wolf zwei Schritte zurück und setzte sich. Er war jetzt völlig verstummt.
Rafe erhob sich mit vorsichtigen, langsamen Bewegungen. Lukas stand auf und entfernte sich, und Rafe ging langsam auf das hell beleuchtete Haus zu. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß der Wolf ihm folgte.
Sie erreichten die Frontseite des Gebäudes.
»Wohin, Lukas?« fragte Rafe. »Die Stufen hinauf?«
»Ja«, sagte Lukas.
Sie stiegen die Stufen zum Eingang hinauf. Die Tür stand angelehnt. Rafe schob sie behutsam auf und trat durch. Lukas blieb unmittelbar hinter ihm. Rafe wandte sich halb um, wollte die Tür schließen und sah, daß Lukas ihn anstarrte.
»Das ist richtig, nicht?« sagte Rafe. »Soll ich die Tür schließen?«
»Ich tue es«, sagte Lukas.
Der Wolf lehnte sich gegen die Tür und drückte sie mit seiner Schulter ins Schloß. Dann erhob er sich auf die Hinterbeine, faßte mit den Zähnen den Bolzen eines schweren Stangenriegels und schob ihn vor. Er ließ sich auf alle viere zurückfallen und starrte Rafe an.
»Wohin, Lukas?«
»Hinten.« Der Wolf trieb ihn durch die kleine Vorhalle und in einen anschließenden Korridor zu einer Tür. Der Raum dahinter war halb Physiklaboratorium und halb Elektrowerkstatt. Am Ende des Raumes war etwas wie eine Theke oder ein hoher Arbeitstisch, und hinter diesem saß eine braunhaarige, überraschend hübsche junge Frau, die auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit mit dem fünfzehn- oder sechzehnjährigen Mädchen zu haben schien, das Rafe während seiner Universitätszeit flüchtig kennengelernt hatte. Nur der ziemlich breite Mund, von dem er wußte, daß er eines plötzlichen, alles umfassenden Lächelns fähig war, kam ihm vertraut vor. Jetzt lächelte er nicht.
Lukas winselte.
»Es ist gut, Lukas«, sagte sie. »Du brauchst nicht im Labor zu bleiben. Warte bei der Tür – aber laß die Tür offen.«
Mit einem einzigen Wedeln seiner buschigen Rute drehte Lukas um und lief zur Tür hinaus, die Rafe und er eben geöffnet hatten. Im Korridor legte er sich nieder.
»Er fürchtet diesen Raum nicht, Mr. Harald – wenn das wirklich Ihr Name ist«, sagte Gabrielle. »Denken Sie also nicht, er bewache Sie in diesem Augenblick nicht. Er fühlt sich hier nicht wohl, das ist alles.«
»Sicherlich ist es der Raum, wo Ab an ihm gearbeitet hat, nicht?« sagte Rafe.
Sie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu.
»Gearbeitet?« fragte sie. »Was für eine Arbeit?«
»Er hat etwas auf seinem Schädel zwischen den Ohren«, antwortete Rafe. »Ich kann es von hier aus nicht gut sehen, aber vorher konnte ich einen flüchtigen Blick darauf werfen. Und er kann sprechen. Das deutet darauf hin, daß Ab seine Hände im Spiel hatte. Es scheint ihm irgendwie gelungen zu sein, die elektrischen Impulse des Gehirns in bestimmten Situationen so zu dirigieren, daß sie einen Vorrat sprachlicher Reaktionen auslösen. Etwas dergleichen?«
Sie blickte ihn nachdenklich an. »Sie spekulieren gern, wie?«
»Wieso? Da ist der Beweis – das Sprechen und dieses Ding auf seinem Schädel. Ich muß zugeben, daß es kaum auffällt, und ich hätte es vielleicht sogar übersehen, wäre der metallische Schimmer nicht gewesen.«
»Die meisten Leute«, sagte sie achselzuckend, »können einen Wolf nicht von einem Schäferhund unterscheiden.«
»Sie können es, wenn sie selber einen Hund bei sich haben und in die Nähe des Wolfes kommen«, sagte Rafe. »Haben Ihre Nachbarn sich nicht beschwert?«
»Unsere Nachbarn hier haben keine Hunde«, sagte sie. »Außerdem habe ich Lukas tagsüber im Haus und lasse ihn nur nachts ins Freie. Aber ich weiß, was Sie meinen. Die Hunde aus dieser Gegend, die Lukas gesehen oder gewittert haben, geraten in höchste Erregung, wenn sie draußen vorbeikommen. Oder sie laufen weg, so schnell sie können.« Ihre Stimme war jetzt wärmer.
»Mit guten Grund«, sagte Rafe.
»Wahrscheinlich.« Sie blickte ihn an. »Wenn Sie reden, erinnern Sie mich an den Rafe, den ich kannte. Ich sah Sie nur zwei- oder dreimal, wenn Sie ins Haus
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