Geschöpfe der Nacht
sollst?«
»Nein.« Der Wolf leckte seine Fänge. Seine Augen blieben auf Rafe gerichtet, zwei grünliche Lichter im Dunkeln.
»Dann rufe sie. Wenn Gabrielle wüßte, daß ich hier bin, dann würde sie wollen, daß du sie rufst.«
»Nein. Du lügst zu mir«, sagte Lukas. »Gabrielle hätte mir gesagt, wenn ich sie rufen sollte.«
»Sie wußte nicht, daß ich so früh kommen würde«, sagte Rafe. »Paß auf, du gehst sie holen, und ich bleibe hier, wo ich bin.«
»Nein. Aber du bleibst.«
»Lukas …« Rafe veränderte den Griff seiner schmerzenden Finger am Ast. Mit angezogenen Füßen befand er sich in einem sehr labilen Gleichgewicht, das nur mit Muskelkraft gehalten werden konnte. Nicht mehr lange, und er würde sich fallen lassen und den Kampf mit Lukas wagen müssen, wenn er den Wolf nicht überreden konnte, Gabrielle zu verständigen. »Hör zu, Lukas. Ab ist fort, nicht wahr?«
Japsen und Knurren von unten. Keine Antwort.
»So ist es. Ab ist fort«, sagte Rafe. »Und jemand hält ihn irgendwo gefangen.« Rafe fragte sich flüchtig, wieviel von alledem Lukas verstehen mochte. »Dieselben Leute, die Ab geholt haben, können jetzt jeden Augenblick kommen und auch Gabrielle holen …«
Das Grollen in Lukas’ Kehle wurde stärker und klang wie ferner Donner. Ein Frösteln überlief Rafe.
»Wenn ich nicht vorher zu Gabrielle gehen und ihr helfen kann«, fuhr er fort. »Sie werden dir Gabrielle wegnehmen, wenn du sie nicht jetzt gleich holst. Denk, Lukas. Es ist an dir. Du willst doch tun, was richtig ist. Du willst Gabrielle rufen und sie retten. Ruf Gabrielle hierher, oder fremde Männer werden kommen und sie fortschaffen …«
Rafe verstummte. Lukas zog sich langsam in Richtung auf das Haus zurück, rückwärts gehend und immer wieder stehenbleibend.
»Gut, Lukas«, sagte Rafe. »Sehr gut. So ist es richtig. Ruf Gabrielle.«
Knurrend und mit gesträubtem Nackenhaar, die Augen grünlich glühend und den Schwanz am Boden, tappte der Wolf weiter zurück. Plötzlich warf er sich mit einem Aufheulen herum und raste in die Dunkelheit davon. Lange Sekunden herrschte vollkommene Stille, und Rafe ließ seine Beine baumeln und lockerte den Griff seiner verkrampften Finger. Dann rutschte er einen Meter auf dem Ast zurück, damit ihm wenigstens der Rückzug offen blieb, wenn Lukas allein zurückkehrte. Plötzlich begann eine Alarmglocke zu schrillen, und dreißig Meter vor ihm flammten Lichter auf und tauchten das Äußere einer zweigeschossigen Villa in gleißende Helligkeit.
Erleichtert ließ Rafe seinen Ast fahren und fiel. Er spürte kaum den Aufprall auf dem federnden Rasen, ließ sich auf den Rücken zurückfallen und reckte seine steifen Arme und Beine. Er hob seinen Kopf …
Und erstarrte. Das tiefe, kehlige Grollen war unmittelbar neben ihm. Er drehte ganz langsam seinen Kopf und blickte in Lukas’ Gesicht, keine zwanzig Zentimeter entfernt. Der Wolf stand neben und halb über ihm, und seine von den Lefzen entblößten Fänge berührten beinahe Rafes Kehle.
»Ich – ich werde mich nicht bewegen«, murmelte Rafe. »Ruhig, Lukas. Ruhig …«
Das fürchterliche Knurren dauerte an. Wolfsatem blies heiß in Rafes Gesicht, und aus den halbgeöffneten Kiefern tropfte Speichel auf seinen Hals.
»Ich werde mich nicht bewegen«, wiederholte Rafe, starr vor Angst. »Keine Sorge, Lukas. Ich werde mich nicht rühren.«
Die unerträgliche Situation dauerte mehrere Minuten unverändert an. Dann hörte das Lärmen der Alarmglocke abrupt auf, aber in Rafes Ohren echote das Geräusch weiter. Eine lange Zeit verstrich, bevor Lukas’ Knurren wieder zu einem Japsen und Winseln wurde und sein Kopf sich ein wenig zur Seite wandte und über seinen Kopf und hinter ihn blickte.
»Gabrielle?« sagte Rafe, ohne sich zu rühren. »Sind Sie da? Ich bin Rafe Harald, vom Projekt ›Ferner Stern‹ auf dem Mond. Gestern oder vorgestern telefonierten wir über Abs Verschwinden.«
Das Wispern von etwas wie einer leisen Brise näherte sich von hinten seinem Kopf. Lukas’ Fänge waren wieder über seiner Kehle, und er wagte nicht die geringste Bewegung.
»Gabrielle?« sagte er verzweifelt.
»Wie ist Ihr zweiter Vorname?« Die weibliche Stimme klang mißtrauisch und hart.
»Arnoul«, sagte Rafe. »Rafael Arnould Harald. Als ich Sie anrief, erwähnte ich, daß Ab und ich miteinander befreundet waren, hier, während unserer Studentenzeit. Ab war acht Jahre älter als ich und mein Tutor, als ich mit dem Studium anfing. Sie waren
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