Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
schon ein Lernprozess angesichts der falschen und kontraproduktiven Reaktion in den USA auf die Anschläge auf das World Trade Center auswirkte. Denn in den USA hatten Regierung und Bevölkerung nach einer ähnlichen Katastrophe ganz anders reagiert: George W. Bush erklärte den Krieg gegen den Terrorismus, viele Amerikaner sahen auf einmal in ihren muslimischen Mitbürgern potenzielle Terroristen, im großen Stil wurden demokratische Grundrechte abgebaut, Menschen
ohne Gerichtsurteil gefangen gehalten, Folterpraktiken von Staats wegen legitimiert. Es geschah, was in solchen Situationen allzu oft geschieht: Bei dem Versuch, sich gegen einen Angriff zur Wehr zu setzen, ließ sich ein demokratisches Gemeinwesen dazu verleiten, der inhumanen und antidemokratischen Logik seiner Feinde zu folgen.
Nirgends hat der Terrorismus, vor allem der islamistische, zerstörerischer gewirkt als in der Gesellschaft der USA. Bis heute ist es dort nicht gelungen, die Vertrauensbasis wiederherzustellen, die für das Funktionieren einer komplexen Gesellschaft unerlässlich ist. Die politische Sphäre ist in einem Maße vergiftet wie seit dem Sezessionskrieg nicht mehr. Die von der Tea Party in eine unsinnige Radikalisierung getriebenen Republikaner sind kaum noch zu Kompromissen mit der Demokratischen Partei fähig, der gewählte Präsident Barack Obama wird auf öffentlichen Kundgebungen und auf Fox TV je nach Bedarf als neuer Stalin oder neuer Hitler beschimpft. Das Land, das unter einem riesigen Schuldenberg und unter der immer noch hohen Arbeitslosigkeit ächzt, rüstet weiter auf – nach außen und im Innern. In der sich schnell ausbreitenden Atmosphäre des Misstrauens wird mittlerweile auch die traditionell lebendige Kultur der einst weltweit bewunderten Townhall-Demokratie in Mitleidenschaft gezogen.
Das eigentlich Tragische an dieser Situation ist, dass die naheliegende Methode der Angstreduktion durch die Externalisierung der Bedrohung nicht mehr funktioniert. Der Versuch, dem Terrorismus durch die Intervention im Irak, in Afghanistan oder am Horn von Afrika die Basis zu entziehen, ist gescheitert, die übliche pauschale Stigmatisierung des Islam als Feind des Westens hat sich spätestens nach den jüngsten demokratischen Erhebungen in der islamischen Welt erledigt, und die blutigen Anschläge von Bologna 1980, auf dem Oktoberfest in München im selben Jahr, in Oklahoma City
1995, in Norwegen 2011 und die erst kürzlich ans Licht gekommenen Morde eines rechtsradikalen Untergrundnetzes in Deutschland haben bewiesen, dass Terrorismus keineswegs ein Spezifikum islamistischer Radikalität ist. Terroristische Gewalt scheint – zumindest auch – ein Zerfallsprodukt jener geordneten westlichen Welt zu sein, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Wohlfahrtsstaat mit geregelten Arbeitsbeziehungen und umfassender sozialer Absicherung etablierte.
Freiheit und Demokratie haben – das zeigte sich im annus mirabilis 1989 und das hat sich im Jahr 2011 in den demokratischen Aufstandsbewegungen in der islamischen Welt erneut erwiesen – nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Aber wenn sie, wie es leider im Westen allzu oft der Fall ist, mit mitleidloser Durchsetzung der jeweils eigenen ökonomischen Interessen, mit arroganter Machtdemonstration und Missachtung der weniger Erfolgreichen und anderer Kulturen, mit der Erzeugung massenhaften Elends und der Auflösung aller sozialer Bindungen einhergehen, setzen sie vagabundierende destruktive Kräfte frei, die sich jederzeit, an jedem Ort gewaltsam manifestieren können. Der Terrorismus als markantester Ausdruck dieser Gewalt entstammt nicht dem Zusammenstoß eines historisch zurückgebliebenen Bewusstseins mit der avancierten Moderne, sondern ist das Ergebnis eines Zurückbleibens der Moderne hinter ihren eigenen Ansprüchen, ihren eigenen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wir können auch sagen: Terrorismus ist der Ausdruck der verzweifelten Moderne.
5. Der Verfall lebensleitender Institutionen
Wer vor fünfzig, sechzig Jahren einen Lebenslauf schreiben musste, für den waren die markanten Stationen, die er zu erwähnen hatte, weitgehend vorgegeben: Geburt, Einschulung, Kommunion oder Konfirmation, Hauptschulabschluss, Mittlere Reife oder Abitur, Wehrdienst, Lehre oder Studium, Berufseintritt, Eheschließung, Geburt der Kinder, der eine oder andere Karriereschritt, vielleicht noch ein Hinweis auf langjährige Mitarbeit bei der Caritas oder
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