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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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Begleiter auftreten, der Wettbewerb zwischen den Brüdern musste am Laufen gehalten werden.
    Übernächtigt und zerstritten erreichten die beiden New York in den frühen Morgenstunden. Die Stadt kochte im Nebel. Doch während in Essen der Dunst alles verschlang, die Bestandteile an seinem Grund zu einer Masse vergor, stachen hier die Häuser aus dem Sud heraus, mit den Fensterreihen, die sich wie Maßeinheiten in exakt gleichen Abständen wiederholten. Hier lebte man nicht, hier handelte man Verträge aus.
    Kurt und Karl Tietjen führten Vorgespräche mit dem Waldorf-Astoria und dem Ritz-Carlton. Sie besichtigten ein Ladengeschäft, gingen durch die Regalreihen und malten sich aus, wie die Frotteezungen aus den Fächern heraushängen würden. Die beiden Brüder saßen in einer überteuerten Bar in der Bleeker Street, tranken importiertes Bier, machten Scherze und lachten zusammen. In den Nebenstraßen warteten unzählige Drycleaner darauf, das widerstandsfähige Tietjenmaterial zu laugen. All die Chemie würde dem deutschen Gewebe nichts anhaben können, und hätte sich das erst einmal herumgesprochen, überlegten die Tietjenbrüder euphorisch, wäre ihnen eine Vorreiterstellung auf dem New Yorker Frotteemarkt sicher – und dann, den beiden wurde vor Aufregung flau im Magen, dann würde man Bundesstaat um Bundesstaat erobern, Massachusetts und Montana, Florida und New Mexico, bis der Name Tietjen im ganzen Land bekannt wäre. Und wäre Amerika gewonnen, so läge Europa ihnen zu Füßen.
    Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit verzichteten die beiden darauf, sich gegenseitig zu taxieren. Kurt dachte nicht mehr daran, dass er nur als Karls Begleiter reiste und Karl vergaß, seinem Bruder immer voraus sein zu wollen. Sie beschlossen, ihre Welt zwischen sich aufzuteilen. Amerika würde Karls Revier werden, Deutschland blieb für Kurt, den jüngeren der beiden. Ein Ozean würde künftig zwischen ihnen liegen, und ihre Konkurrenz in der Weite des Atlantiks untergehen. Endlich konnten sie Partner sein, etwas, was sie nie hatten sein dürfen, da es ihr Vater ihnen verbot.
    An jenem Abend, während auf dem Atlantik eine halbe deutsche Flotte von amerikanischen Kampfschiffen versenkt wurde, begruben sie ihre Rivalität. Zwischen ihnen würde fortan Friede herrschen, so lange wenigstens, bis einem der Brüder sein Einflussbereich zu klein werden würde. Und das konnte noch eine Weile dauern. Deutschland war groß. Amerika war unermesslich. Die Brüder drehten ihre Bierdeckel auf der schmutzigen Tischplatte, nicht unruhig, nicht nervös, sondern von einem Tatendrang erfüllt, den sie kaum noch im Zaum halten konnten.
    Kurt senior, Luises Großvater, reiste mit dem Gefühl ab, für die Eroberung der Neuen Welt alles getan zu haben, was in seiner Macht stand. Er ließ einhundertzweiundsechzig Kilogramm Frotteeware zurück, die teilweise bereits aus den Kartonschachteln hinausquoll, von Diplomatic Blue bis Sunshine Valley, von Hunting Green bis Empire Grey. Und er ließ seinen Bruder Karl zurück, der sich zwischen den Schlaufen und Farben der neuen Frotteekollektion verlor.
    Die Eroberung Amerikas, die im Frühsommer 41 verheißungsvoll begonnen hatte, kam nur wenige Monate später zum Erliegen, fiel, um es genau zu nehmen, bereits kurz nach der Abfahrt des älteren Tietjenbruders in einen tiefen Schlaf, in dem zwar ein wirrer amerikanischer Traum geträumt, aber nur wenig Frottee verkauft wurde.
    Karl Tietjen, der erste Vertreter für Tietjenprodukte in Amerika, bezog ein aus vorgefertigten Holzwänden gebautes Haus, eine Stunde von der Central Station entfernt. Im Vorortzug, auf dem Weg in die Geschäftsstraßen Manhattans, hielt er den Koffer mit den Mustern auf seinem Schoß, öffnete ihn leise und warf einen Blick in das geordnete Bunt. Alles war, wie es sein sollte: weich und gut. Abends besuchte Karl den deutschen Club in Manhattan, trank Highballs, rauchte Filterzigaretten, die besser zum hektischen New Yorker Leben passten als die gemächlichen deutschen Zigarren. Der Club bekam Gelder von der Parteizentrale in Berlin, mit denen Vorträge und opulente Feste finanziert wurden. Karl fühlte sich gut und fern, denn sie, die Männer des deutschen Clubs, waren in New York, und was in Europa geschah, war nicht mehr als eine Schimäre.
    Karl, der jeden Abend in seinen Vorort zurückkehrte, wo die Sonne noch kurze Zeit in der Farbe California Sun erstrahlte, um schließlich in Indian Summer zu versinken, richtete sich schnell im

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