Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
aus, ebenso wie eine Nachricht von Luises Vater.
Er ist nicht einmal zu dem Treffen gegangen, donnerte Werner am 16. Ich habe gerade einen Anruf aus New York bekommen. Er hat den Einkaufsleiter einfach sitzenlassen. Das Geschäft ist geplatzt. Das Geschäft ist ein für alle Mal geplatzt.
Hast du mit Kurt gesprochen?, fragte Luise.
Gesprochen? Dem werde ich was erzählen, wenn er sich bei mir meldet. Einfach nicht hingegangen!, wiederholte Werner. Bei Macy’s braucht sich die Firma Tietjen nicht mehr blicken zu lassen.
Das deutsche Konsulat konnte mit dem Namen Kurt Tietjen nichts anfangen. Attaché Wieland teilte am 20. Mai der Firma Tietjen – z. Hd. Siglinde Bloom, Sekretariat Werner Kettler – per Telefax mit, man habe bedauerlicherweise anderes zu tun, als einen verirrten Urlauber in New York zu suchen. Hochachtungsvoll.
Werner glaubte nicht daran, doch Luise war nach einer Woche ohne Nachricht von Kurt der festen Überzeugung, dass es sich um eine Entführung handelte. Sie sah ihren Vater in einer verdreckten New Yorker Wohnung auf einer Matratze liegen, einen Strick um die Handgelenke, und sie fühlte eine vollkommene Ruhe in sich, denn sie wusste nun, was sie erwartete: Ein Anruf, bei dem der Entführer mit einem Stimmverzerrer zu ihr sprechen und sie auffordern würde, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.
Kurt Tietjen sei kein lohnendes Ziel für eine Entführung, erklärte Werner. Das Vermögen der Tietjens sei lange nicht mehr groß genug. Wenn jemand auch nur einen Funken Grips im Kopf hat, dann lässt er die Finger von uns. Bis wir das Lösegeld zusammenhaben, sind die Entführer längst in Rente gegangen.
Luise überhörte Werners Einwand. Ob sie nicht doch die Polizei benachrichtigen sollten? Werner schüttelte nur den Kopf. Das Vermögen der Firma sei zu gering. Viel zu gering, fügte er hinzu. Kurt sei nicht entführt, schon gar nicht in New York, und damit basta.
So ruhig, ja betäubt Luise sich gefühlt hatte, als sie auf die Idee gekommen war, Kurt könne entführt worden sein, so nervös wurde sie, als Tage später immer noch keine Nachricht eintraf. Sie fragte sich, ob die Entführer längst einen Brief geschrieben hatten, ob er an eine falsche Adresse geschickt oder in der Firma übersehen worden war. Luise wusste nicht, wem sie die Schuld geben sollte, einem Angestellten, sich selbst oder Kurt, der sich zum falschen Zeitpunkt an den falschen Ort begeben hatte. Nur die Entführer verdächtigte sie in diesen Tagen kein einziges Mal; deren Handeln erschien ihr logisch, und sie konnte nichts dagegen unternehmen, dass die Erpresser mit einer falschen Adresse verhandelten.
Am 27. Mai erreichte Luise Tietjen eine Ansichtskarte mit dem Empire State Building, auf der ihr Vater in seiner krakeligen Schrift mitteilte, dass man in Essen nicht auf seine Rückkehr zu warten brauche, alles sei geregelt.
Was bitte schön soll geregelt sein?, fragte Werner, als Luise ihm die Karte zeigte. Sie saß auf dem Besucherstuhl, auf dem sie nun fast täglich saß, um mit ihrem Onkel die Lage zu besprechen. Carola hatte sich geweigert, Werner zu helfen. Lass mich mit der Firma in Ruhe. Wie klug sie gewesen war, begriff Luise erst jetzt. Kurt hatte, wie Werner ihr erklärte, nur Löcher und Lücken zurückgelassen, Pläne, die auf Eis gelegt waren, Verträge, die halb ausgearbeitet auf seinem Schreibtisch vergilbten, und eine Unternehmenssatzung, die ihm, Kurt Tietjen, zu viel Macht einräumte, um ohne ihn ausreichend handlungsfähig zu sein.
Werner Kettler behauptete zwar, den neuen Anforderungen des Marktes gewachsen zu sein, in jedem Fall besser als Kurt, der einfach getürmt war und die Firma sich selbst überließ. Aber der Kern des Unternehmens war nicht mehr vorhanden, jener letzte echte Tietjen, der dem Familienunternehmen seine Legitimation gab. Kurt Tietjens Verschwinden war nicht nur unverständlich, sondern – und das konnte jeder in der Firma erkennen – ein Zeichen des Tietjen’schen Niedergangs, eines Traditionsunternehmens, das nun führungslos in eine immer wüster werdende Textillandschaft hinein produzierte.
Solange Luise denken konnte, hatte ihr Vater nichts unüberlegt getan, und so musste es auch für sein Verschwinden einen Grund geben, dachte sie. Sicherlich hatte er eine neue Strategie zur Etablierung seines Geschäfts ersonnen, er hatte das Empire State in Frottee gewickelt, ein paar Popstars in Bademäntel gesteckt und an der Wall Street mit Handtüchern geflaggt. Auf den
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