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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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ausgefragt zu werden, und was gab es schon zu den Fabriken zu sagen. Konzentriert blickte er aus dem Fenster, um wieder seine Ruhe zu haben. Nichts, weiße Öde.
    Die Grafik auf dem Bildschirm zeigte, wie sie unterhalb Griechenlands immer weiter in die Mittelmeerwüste hineinflogen. Einige Reedereien ließen ihre Schiffe mit 15 Knoten fahren, slow shipping , langsames Schiffen, auf diese Weise wollte man verschleiern, dass die Schiffe nicht ausgelastet waren. Niemand gab gerne zu, Lücken in den Auftragsbüchern zu haben. Langsamkeit täuschte während einer Flaute das Gefühl der Vollbeschäftigung vor. Ein Schiff auf dem Wasser war zudem billiger als ein Schiff im Hafen. Es rechnete sich. Immer rechnete sich alles. Das konnte nicht gesund sein, dachte Kurt Tietjen und schaltete den Bildschirm aus.
     
    Im Vorfeld waren Gelder unter dem Posten »Expertengutachten Dipl.-Ing. Liu« verbucht worden, wenn es auch keinen Dipl.-Ing. Liu gab und kein Expertengutachten. Der Vertrag über die Produktion von 300000 Handtüchern pro Monat musste verlängert werden, und das war bisweilen ohne die Hilfe von Phantomen wie Herrn Liu nicht möglich, jedenfalls nicht zu den Konditionen, die Kurt Tietjen aushandeln musste, um konkurrenzfähig zu bleiben. Für etwas Neues ließen sich Menschen leicht begeistern, alles Alte hingegen machte sie skeptisch.
    Wie und wohin die Gelder geflossen waren, so genau hatte es Kurt Tietjen nicht wissen wollen. Irgendetwas, ja, möglicherweise, wusste er, und ja, unter Umständen hatte man an jemanden in der Firmenleitung von Jíjı˘n Textiles Geld überwiesen, um eine positive Entscheidung zu beschleunigen. Das mochte alles sein. Aber weder hatte sich Kurt Tietjen Herrn Liu erdacht noch persönlich eine Überweisung für ein Expertengutachten in Auftrag gegeben. Es war ein Vorgang wie jeder andere, ein Mitarbeiter hatte ihn in Gang gesetzt, ein anderer hatte ihn fortgeführt, und zwischendrin mochte Kurt Tietjen zustimmend genickt haben. Es war keine feine Taktik, aber immerhin eine Taktik.
    Kurt versuchte, nicht darüber nachzudenken, er war damit befasst, die Geschäfte am Laufen zu halten, das verlangte ihm genug ab. Es war ihm geglückt, die alten Verträge zu verlängern, wer konnte schon sagen, wie groß Lius Unterstützung dabei tatsächlich gewesen war, wie hoch die überwiesene Summe, es war schwer genug gewesen, fünf Tage hatte es Kurt gekostet und die Nächte auch, er hatte kaum geschlafen. In den Schanghaier Büros von Jíjı˘n Textiles hatte er im Stundentakt neuen Verhandlungspartnern die Hand geschüttelt, war mit ihnen von einem Besprechungsraum in den anderen gezogen, hatte sich zu einer Stadtrundfahrt überreden lassen, zur Besichtigung des Pearl Towers, zum Mittagessen in einer Pizzeria, zum Abendessen in einem kantonesischen Restaurant, zu einer Tour durch die Amüsiermeile Schanghais. Sogar Karaoke hatte er singen müssen. Wenn er mitten in der Nacht ins Hotel zurückgekehrt war, hatte ihn die Unbewohntheit des Zimmers erdrückt, groß, luxuriös und desinfiziert, wie es war. Er hatte den Fernseher eingeschaltet, sich chinesische Kochsendungen oder amerikanische Seifenopern angesehen, beides gleichermaßen wirr und fern.
    Die Baustelle vor seinem Fenster war auch nachts beleuchtet, siebzehn Stockwerke unter sich balancierten kleine Figuren mit Helmen auf dem Kopf über die schmalen Streben des Gerüsts. Der junge Mann im Flugzeug hatte ihm erzählt, dass auf den meisten Baustellen die Helme weggelassen wurden, da es teurer war, einen Arbeiter mit einem Helm auszustatten, als seinen Tod zu versichern. Kurt hatte genickt und aus dem Fenster gesehen. Aber er konnte sich nicht darüber freuen, dass die Arbeiter hier Helme trugen und er zumindest deswegen kein schlechtes Gewissen haben musste. Es war ihm gleichgültig. Zwischen drei und vier Uhr schlief er ein, betäubt von Schlaftabletten und dem Gin aus der Minibar. In Deutschland war es früher Abend.
    Kurt konnte nicht sagen, ob er geschlafen oder nur in einem Delirium gelegen hatte, als das Telefon klingelte. Obwohl er im ersten Augenblick nicht einmal wusste, wo er war, griff er automatisch an die richtige Stelle, um den Hörer abzuheben. Hotelzimmer, die für Kurt Tietjen gebucht wurden, sahen alle gleich aus. Er las die grün leuchtenden Ziffern auf dem Wecker und wusste, dass der Schlaf, den er mit so viel Mühe herbeigelockt hatte, nun endgültig vertrieben worden war.
    Am Telefon hörte er eine Frauenstimme. Nach einem

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