Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Marktwirtschaft werden. Einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen Problemen wünsche ich mir gerade von Unternehmen aus Industrieländern wie Deutschland. Das bedeutet, die genannten Probleme nicht am Rand mitzubedenken, sondern sie ins Zentrum einer modernen Unternehmenspolitik zu setzen – so, wie es die Firma Tietjen bereits vormacht.
RP: Sie waren kürzlich selbst in China, um dort die Arbeitsbedingungen in den dortigen Fabriken mit eigenen Augen zu begutachten. Was haben Sie gesehen?
Tietjen: Wissen Sie, es ist schwer zu beschreiben – also für einen an den deutschen Wohlstand und die hiesige Demokratie gewöhnten Leser zu übersetzen. Ich könnte Ihnen jetzt von kahlen Wänden und engen Räumen erzählen, die sich sechs, acht, manchmal zehn Arbeiter teilen müssen. Ich könnte Ihnen von der monotonen Arbeit am Fließband erzählen, für die es keine Tarifverträge und keine Sechsunddreißig-Stunden-Woche gibt. Doch all das trifft es nicht, trifft nicht den Kern. Ich möchte an dieser Stelle gern auf das Buch meines Begleiters Gustav Bomont verweisen, das in Kürze unter dem Titel Demokratie in China? erscheinen wird.
RP: Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders deutlich in Erinnerung geblieben ist?
Tietjen: Wir sprachen mit einem jungen Arbeiter, der nicht wusste, wie weit sein Heimatdorf entfernt lag, weil er diese Strecke erst einmal, nämlich vor fünf Jahren, zurückgelegt hatte und mir sagte, dass er mit seinem Stundenlohn und den straffen Arbeitszeiten frühestens in fünf, wahrscheinlich aber erst in sieben oder acht Jahren dorthin zurückfahren könne. Sein Vater war mittlerweile verstorben, seiner Mutter ging es nicht besonders gut. Umso mehr musste er sich anstrengen, um sie finanziell zu unterstützen. Gesundheit ist ausgesprochen teuer, überall auf der Welt. Sehen Sie, ich bin nicht bloß Beobachter solcher Situationen. Ich bin Unternehmer, ich kann meine Konsequenzen daraus ziehen.
RP: Wie werden diese Konsequenzen aussehen?
Tietjen: Schon jetzt hat die Firma Tietjen einen Großteil ihrer Produktionsverträge in China aufgekündigt. Die restlichen Verpflichtungen werden Ende dieses Jahres auslaufen und nicht erneuert. Dies ist die praktische Seite dessen, was ich tun kann und tun muss. Zudem möchte ich für ein geschärftes Verantwortungsgefühl werben. Ein Verantwortungsgefühl, dessen Grenzen nicht die der Bundesrepublik und auch nicht die der EU sein können, sondern das weltweit greift. Und wenn es sein muss auch eingreift. Diese Botschaft möchte ich gerne weitertragen, zunächst natürlich an meine Mitarbeiter, aber darüber hinaus an andere Unternehmen. Schon Roosevelt sagte, dass rücksichtsloses Eigeninteresse nicht nur moralisch schlecht ist, sondern auch wirtschaftlich schadet. Jetzt gilt es zu zeigen, wie Rücksicht unsere Wirtschaft voranbringt.
RP: Herr Tietjen, ich danke Ihnen für das Gespräch.
VII
Die Hochstraße schnitt Redhook von der restlichen Halbinsel Long Islands ab. Der Gowanus Expressway war in den sechziger Jahren vom Stadtplaner Robert Moses entworfen worden, und die Menschen hielten sich an diese Linie, zogen die Grenze auch in ihren Köpfen. Die Brückenpfeiler standen wie unverrückbare Gegebenheiten, titanenhaft, übermenschlich, nicht ganz von dieser Welt. Sie waren zu hoch, zu breit und sicherlich zu schwer, um jemals bewegt zu werden. Die Lastwagen, Personenkarossen, Limousinen, die über den Highway fuhren, ratterten zu jeder Tages- und Nachtzeit über das Metall- und Betongestütz.
In den Staaten sei alles ein wenig grobschlächtig gebaut, hatte Kiesbert einmal gesagt. Damals, als Kurt nur gelegentlich nach New York flog, hatten sie sich im Club getroffen, auf Festen des deutschen Vereins und bei Veranstaltungen für die Führungselite der Textilfirma Bergson Softstyle. Kiesbert, bis zur Jahrtausendwende Manager bei Bergson, hängte sich an Kurt Tietjen mit einer Penetranz, die fast schon unhöflich war. Kiesbert hatte sich die grenzenlose Fröhlichkeit seiner amerikanischen Umgebung angeeignet und Kurt mehrmals genötigt, Gast in seinem Apartment zu sein, wo er ihm Vorträge über die deutsche Mentalität und den amerikanischen Traum hielt. In Deutschland, hatte er Kurt erklärt, will jeder seine Ruhe haben. Und dann gehen die Menschen in ihrer Ruhe ein.
Tatsächlich aber ging die Firma Bergson Softstyle ein, und man hörte eine ganze Weile nichts mehr von Kiesbert. Man verschwieg ihn wie ein schlechtes Omen, und in diesem Schweigen war
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