Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
seine Stimme drängend. »Komm mit uns. Wir können dich beschützen.«
»Runter damit! Zwei Sekunden!«
»Bitte«, flehte ich ihn an.
»Du willst mich doch gar nicht erschießen«, haspelte Chase. »Und ich will dich auch nicht erschießen. Ich verspreche dir, wir können dir helfen. Wir können auch deine Familie beschützen.«
Der Soldat zuckte. Chase senkte langsam seine Waffe und zielte auf Harpers Knie.
»Wir können deine Familie in Sicherheit bringen«, fuhr Chase fort. »Ich weiß, wie das ist. Das haben sie mit mir auch gemacht, jemandem wehgetan, der mir wichtig war. Und sie haben gedroht, ihr noch mehr wehzutun, wenn ich nicht gehorche, aber ich bin trotzdem rausgekommen, und du kannst das auch.«
»Das weißt du nicht!«, würgte Harper mühsam hervor. Tränen verschleierten mir die Sicht.
»Ich habe sie aus ihren Händen befreit.« Chase nahm eine Hand von der Waffe und hielt sie hoch.
Harper ließ die Waffe einige Zentimeter weit sinken. Dann noch ein paar Zentimeter. Eine Woge der Benommenheit rollte über mich hinweg, und ich spürte, dass meine Knie nachzugeben drohten.
»Komm mit uns.« Vorsichtig trat Chase einen Schritt näher an den Soldaten heran.
»Ich kann nicht …« Nun weinte er. Heulte Rotz und Wasser, so heftig, dass sich sein ganzer Körper verkrampfte. Wegen der Sirenen konnte ich ihn nicht hören, aber ich sah es, und das reichte voll und ganz.
»Du kannst«, widersprach Chase. »Lass uns verschwinden.«
Noch ein Schritt.
Das Kinn des Soldaten ruckte hoch, und er bedachte Chase mit einem sengenden, gequälten und argwöhnischen Blick.
»Ihr geht nirgendwohin«, konstatierte er.
Alles schien plötzlich in Zeitlupe abzulaufen.
Ich sah, wie Harper die Waffe hob, als wäre er unter Wasser. Ich sah die Veränderung in seinen Augen, sah das Licht in ihnen erlöschen. Chase stürzte sich auf seinen Arm, schlug ihm hart auf den Ellbogen, und dann lagen sie Brust an Brust im Clinch miteinander. In einem Wirrwarr aus blauem Stoff prallten sie zu Boden. Chase’ Waffe glitt davon und prallte gegen meinen Fuß. Ehe ich mich nach ihr bücken konnte, erschütterte der Knall eines Schusses meinen Leib, und ich schrie.
Chase schrak zurück.
Einen Herzschlag lang saßen wir wie betäubt da und sahen schweigend zu, wie sich das Blut aus Harpers Brust auf dem Boden sammelte. Er konnte nicht husten oder würgen, er krächzte keine letzten Worte wie der Schleuser in Harrisonburg. Er war auf der Stelle tot gewesen.
Und dann war in mir plötzlich alles in Aufruhr. Meine Ohren klingelten, mein Puls beschleunigte sich, sogar meine Muskeln brannten darauf, wegzurennen.
Chase tastete an Harpers Hals nach einem Puls. Dann packte er die Uniform des toten Jungen und schüttelte ihn. »Nein!«, brüllte er. Und dann: »Steh auf, Mann. Los. Steh auf !«
Ich packte Chase an der Taille und fühlte, wie sich seine Erschütterung auf mich übertrug. Er schüttelte immer noch den toten Soldaten. Beide Waffen lagen auf dem Boden.
»Chase!« Ich umfasste sein Gesicht und drehte es zu mir. Purer Schock zeichnete sich in seinen Zügen ab.
»Sieh mich an!«, brüllte ich, genau wie er es Augenblicke zuvor von dem Soldaten gefordert hatte. »Sieh mich an, Chase! Wir müssen weg! Wir müssen hier raus!«
Er keuchte verstört auf, und als seine Augen wieder klar wurden, umfasste er meine Hände und richtete sich unbeholfen auf.
Und dann war er wieder ganz da. Er ergriff meine Hand, hob die Waffe vom Boden auf, und gemeinsam rannten wir an dem Leichnam vorbei zum Ausgang.
K APITEL
20
Das Chaos im Treppenhaus nahm langsam ab, trotzdem war der Weg von Schwestern versperrt, die Patienten die Stufen hinabführten. Dank der Alarmsirene hatten sie den Schuss nicht gehört. Sie wussten nicht, was wir getan hatten.
Chase ließ meine Hand los, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Verlust der Berührung war, als wäre ein Stück von mir weggebrochen. Meine Kehle wurde eng, und das Atmen fiel mir schwer.
Nicht dran denken, sagte ich mir. Sperr das weg. Das war meine einzige Chance, hier lebend rauszukommen.
Endlich hatten wir das Ende der Treppe erreicht. Ich hielt den Kopf gesenkt und lugte durch den Fransenvorhang meiner schwarzen Haare, als wir das Foyer betraten, wo beinahe unsere Identität überprüft worden wäre, und durch die automatische Tür in den Vorraum gingen.
Tucker zu finden war nicht schwer. Er war allein und gut dreißig Zentimeter größer als die Schwestern. Überrascht zog er die
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