Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
heraus, als hätten sie schon seit Wochen an meinem Inneren gezerrt. Chase wich einen Schritt zurück, und es schien, als würde die Luft zwischen uns so dicht werden wie eine gläserne Wand.
Unsicher schnappte ich nach Luft und versuchte, mich so hoch wie möglich aufzurichten. »Du musst nicht mehr auf mich aufpassen. Die Dinge haben sich geändert. Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Ich weiß nicht mal mehr, wer ich mal war.«
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, und als er versuchte, sich mir zu nähern, wich ich einen Schritt zurück. Und dann noch einen. Würde er mich jetzt berühren, ich würde einfach auseinanderfallen, und gerade jetzt musste ich so stark sein wie nie zuvor.
»Bitte, geh weg«, sagte ich. »Bitte« , flehte ich ihn an, als er die Arme nach mir ausstreckte. Und sie fielen wieder herab.
Ohne sich noch einmal umzusehen, stakste er zur Tür hinaus und verschwand auf dem Korridor.
Ich brach auf einer Uniformkiste zusammen. Meine Brust war so verspannt, ich bekam kaum Luft. Ich wusste nicht, wohin Chase gegangen war, aber wo immer er war, ich konnte seinen Schmerz in mir spüren, verstärkt um meinen Hass gegenüber Tucker Morris, der gelogen hatte, genau wie ich es hätte erwarten sollen. Wie hatte ich vom Mörder meiner Mutter erwarten können, dass er mir gegenüber in irgendeiner Weise fair sein würde? Und nun saß ich hier fest und brachte alle anderen in Gefahr. Ich war das Benzin auf einem Haufen trockenen Reisigs, und Tucker, der war das Streichholz. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er zündete.
»Was für ein Morgen.«
Ich sprang auf, bereit, wem auch immer zu sagen, er möge verschwinden, bis ich erkannte, dass es Wallace war, der da ganz gelassen am Türpfosten lehnte. Das Handfunkgerät, das er ständig bei sich zu haben schien, baumelte, an der Antenne gehalten, von seiner Hand herab wie ein Pendel.
Meine Kehle war zu trocken für eine Entgegnung.
»Weißt du, als ihr hergekommen seid, habe ich Billy angewiesen, euch im Zentralrechner zu überprüfen. Ich bin neugierig: Kennst du die Liste der Großtaten unter deinem Namen?« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Angriff auf einen Soldaten im Zuge einer Revision, Flucht aus einer Resozialisierungseinrichtung, steht in Verbindung zu einem unerlaubt abwesenden Soldaten und damit mit allem von einem Angriff mit tödlichen Waffen bis hin zu terroristischen Drohungen. Den Akten zufolge wurdet ihr beide abgeschlossen – ihr wart tot. Das ist eine Meisterleistung. Das Foto wird dir übrigens nicht gerecht.«
Das Foto war in der Reformschule gemacht worden, kurz nach der Verhaftung meiner Mutter, und dies war nicht das erste Mal, dass es in der Computerdatenbank der MM veröffentlich worden war.
»Deine Flucht aus der Basis wurde kürzlich erst hinzugefügt. Kombiniert mit allem anderen, ist es kein Wunder, dass die dich für den Todesschützen halten.«
Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle runter. Noch vor ein paar Tagen hatte ich eine merkwürdige Gemeinsamkeit mit Wallace empfunden, aber jetzt war ich so defensiv wie bei unserer ersten Begegnung.
»Ich bin keine Mörderin«, sagte ich. Eigentlich hätte es nicht nötig sein dürfen, das jemandem zu erklären, der es so oder so wusste.
»Das FBR sagt etwas anderes.«
»Das FBR lügt!«, entgegnete ich wütend.
»Ah!«, machte er und lächelte. »Das fühlt sich besser an, oder?«
Er machte kehrt, doch ehe er ging, hielt er noch einmal inne.
»Ember, ich musste nicht erst deine Akte im Zentralrechner sehen, um zu wissen, dass du hierhergehörst. Das wusste ich in der Sekunde, in der du zur Tür hereingekommen bist.«
Er ging, und ich schäumte vor Wut. Ich gehörte nicht hierher, nicht jetzt, da jeder Soldat in der Gegend mich suchte. Ich gehörte nirgendwohin. Ich war eine Gefahr für unsere Sache, für Chase, für Sean und Billy. Ich war eine Gefahr für mich selbst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die MM mich schnappte.
Ruckartig wandte ich mich von der Tür ab und trat das Erste, das in Reichweite war: einen Karton. Hellblaue Blusen und marineblaue Faltenröcke ergossen sich auf den schmutzigen Teppich. Die Heilsschwesternuniformen, die Cara mitgebracht hatte.
Frustriert schnappte ich mir ein Handtuch und flüchtete ins Badezimmer. Ich wusch mein Haar, getrieben von einem beinahe wahnsinnigen Drang, mich zu säubern. Ich schnitt es auf Kinnlänge und färbte es im Waschbecken mit einer Flasche von etwas, das aussah wie Melasse,
Weitere Kostenlose Bücher