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Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)

Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)

Titel: Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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Konturen der Welt plötzlich weicher, wie Schatten in der Dämmerung.
    »Ich weiß nicht mal, was das ist«, entgegnete ich und entzog ihm meine Hand.
    »Das ist der heilige Michael. Der Erzengel. Er hat die guten Engel in den Kampf gegen die bösen geführt.«
    Ich konnte mich nicht erinnern, in den Pflichtgottesdiensten der Amerikanischen Kirche von einem heiligen Michael gehört zu haben. Chase musste vor dem Krieg von ihm erfahren haben.
    Wieder donnerte es, und ich zog unwillkürlich den Kopf ein. Ich betastete die unebenen Kanten des silbernen Anhängers und sah zu, wie das Licht von der winzigen geflügelten Figur reflektiert wurde, während die Kette über meine Haut glitt. Je mehr Sekunden vergingen, desto schwerer fühlte sich das Medaillon an, aber irgendwie schien ich es nicht wegstecken zu können.
    »Glaubst du an den Himmel?«, fragte ich.
    Ich wusste nicht, ob ich es tat. Früher einmal hatte ich ihn als real empfunden, so wie ich als Kind auch blind an Santa Claus geglaubt hatte. Aber seit meine Mutter gestorben war, schwelte das Bedürfnis in mir, das Unbekannte zu ergründen. Ich wollte so verzweifelt an etwas Greifbares glauben. Ich wollte wissen, dass es irgendwo Frieden gab.
    Das Gesicht im Schatten verborgen, beugte Chase sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie.
    »Du willst wissen, ob er für die Erneuerten reserviert ist?« Und das Wort »Erneuerte« hörte sich bitter und schleppend an.
    Schaudernd stellte ich mir vor, die Engel am Himmelstor würden erst unseren Konformitätsstatus überprüfen, ehe sie uns einließen. Nur Erneuerung führt auf den Weg der Erlösung. Erlösung kann man sich durch Resozialisierung verdienen. Das pflegten die Pfarrer der Amerikanischen Kirche zu predigen. Das FBR , der Präsident, sie alle vermittelten die gleiche Botschaft: Wie du bist, bist du nicht gut genug.
    Meine Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, mir jeden Sonntag auf dem Heimweg vom Gottesdienst das Gegenteil zu predigen.
    Wieder spürte ich den Druck auf meiner Brust.
    »Für alle«, hakte ich nach, und als er zögerte: »Also, tust du das?«
    Er zupfte an einer ausgefransten Stelle seiner Jeans herum.
    »Ich glaube, dass guten Menschen schlimme Dinge zustoßen. Und dass schlimmen Menschen gute Dinge passieren.«
    Er wich mir aus. »Danach habe ich nicht gefragt.«
    »Ich weiß«, sagte er nach einer Weile und zog die Schultern hoch. In diesem Moment erinnerte er mich an den Jungen, der er einmal gewesen war, ehe das Leben ihn hart gemacht hatte. »Früher habe ich geglaubt, wer gut ist, dem geschieht Gutes. Heute weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«
    »Und das ist alles? Du stirbst, und damit ist Schluss? Da ist nichts anderes mehr?« Panik baute sich in mir auf, und ich konnte nur mühsam verhindern, dass meine Stimme einfach brach.
    Sein Adamsapfel hüpfte, als versuche er vergeblich zu schlucken. »Meine Mom hat gesagt, es gäbe mehr. Sie hat es die Geisterwelt genannt. Sie hat mir erzählt, der Tod sei nur die Brücke in diese Welt, und dass Seelen auf uns warten würden, um uns hinzuführen.«
    Das fühlte sich in diesem Moment wahrhaftiger an als alles andere. Den Geist meiner Mutter glaubte ich ständig zu spüren, und ich spürte ihn auch jetzt, gleich zwischen Chase und mir.
    Er griff nach meiner Hand und umfasste sie mit den seinen.
    »Ember, ich glaube, wenn es so einen Ort gibt – einen guten Ort –, dann ist das der Ort, an dem deine Mutter jetzt ist.«
    Es geschah ganz plötzlich. Von einem Moment auf den anderen ballten sich der Schmerz, die Furcht und die Einsamkeit in mir zusammen und versetzten mir einen grausamen Stich. Meine Augen brannten, doch da waren keine Tränen. Ich wollte weinen. Ich hätte tagelang weinen mögen, ganz besonders, als es passiert war, aber seit unserer Flucht aus der Basis hatte ich keine Träne vergossen. Es war, als wäre das Weinen erstickt und hätte nur noch Zorn zurückgelassen.
    Nichts fühlte sich richtig an. Meine Gedanken fühlten sich nicht richtig an. Meine Haut fühlte sich nicht richtig an. Sogar Chase neben mir vermittelte mir ein Gefühl von Klaustrophobie. Ich wollte weglaufen. Verschwinden. Mich selbst vergessen.
    Und die Fragen wollten nicht verstummen: Hast du genug getan? Hättest du sie daran hindern können, meine Mutter zu töten? Warum konnte ich dem keinen Einhalt gebieten? Warum habe ich es nicht kommen sehen?
    Ich wollte nicht um meine Mutter trauern. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob sie auch

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