Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
aufhalten. Die Schnellstraßen sind nicht sicher.«
»Nichts ist sicher«, entgegnete er. »Und das gibt ihnen wenigstens Hoffnung.«
Offenkundig hielt Chase das für wichtig, ich war mir da nicht so sicher. Hoffnung machte die Enttäuschung nur größer, wenn man sich der Realität schließlich doch stellen musste.
Kleidung aus den Spendensäcken wurde verteilt. Ich erhielt ein Sweatshirt und eine altmodische Cargohose, die groß genug war, um Chase zu passen. Nach unserer Flucht hatte ich mich mit was immer greifbar war begnügen müssen.
Weil mein Kopf unter viel zu vielen Erinnerungen und unbeantworteten Fragen pochte, schnappte ich mir meine Sachen, sagte den anderen, ich würde während der Reisevorbereitungen die erste Wache übernehmen, und ging zurück nach oben in die Werkstatt. Chase sah mir schweigend hinterher.
Die Geräusche des Sturms halfen mir, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen. Ich versteckte mich hinter dem MM -Laster, stellte eine Taschenlampe aufrecht auf die Stoßstange und schälte mich aus dem blauen Rock und der Bluse. Das Unwetter hatte mich bis auf die Knochen durchnässt.
Aber ich lebte noch.
Wir hatten unsere Mission erfüllt, trotz der Widrigkeiten. Niemand hatte versucht mich umzubringen; mit Ausnahme der Frau in der Zeltstadt hatte mich kein Zivilist erkannt, und sie hatte mich wie eine Art Heldin behandelt. Wie jemanden, der eine Rebellion anführen könnte. Meiner Mutter hätte das gefallen.
Hoffentlich hatte die Frau bereits angefangen, überall auf dem Platz zu verbreiten, dass sie mich gesehen hatte. Dass sie den Sniper gesehen hatte. Wie viele würden ihr wohl glauben? Mir kam der Gedanke, dass der echte Heckenschütze womöglich erbost reagierte, weil ich ihm den Ruhm gestohlen hatte; vielleicht gefiel ihm die Aufmerksamkeit. Aber eigentlich glaubte ich das nicht; wäre ich der Sniper, ich hätte jede Hilfe haben wollen, die sich mir böte. Vielleicht hörte er ja sogar davon, dass ich Sarah und den Leuten dort unten geholfen hatte, und war an einer Zusammenarbeit interessiert oder so etwas.
Was ich natürlich höflich ablehnen würde, denn er war offensichtlich verrückt.
»Oh. Hey, tut mir leid.«
Ruckartig kehrte ich in die beschämende Realität zurück und wurde mir meines zerlumpten Büstenhalters und der Baumwollunterwäsche bewusst. Außerdem gab ich eine tolle Wache ab. Ich hatte nicht einmal gehört, dass Chase die Stufen heraufgekommen war. Erst, als er gerade noch zweieinhalb Meter von mir entfernt im Schatten stand, hatte ich ihn bemerkt.
Im Gegensatz zu vorhin fror ich nun nicht mehr. Meine Haut glühte förmlich vor Hitze. Ich versuchte, so zu tun, als kümmere mich das alles nicht, als würde ich mich nicht mehr daran erinnern, dass er diese Mission abgelehnt hatte oder dass wir auf dem Platz getrennt worden waren, doch das lenkte mich so sehr ab, dass ich mich nur noch ruckartig bewegen konnte und meinen Hosenstall folglich zuknoten musste, statt den Reißverschluss hochzuziehen.
»Ich bin’s nur.« Chase hatte sich stumm abgewandt, während ich mich angezogen hatte.
»Du hast mich erschreckt«, entgegnete ich. Das zumindest war die Wahrheit.
Er fing an, die Ausgänge zu kontrollieren. Die Tore, das Fenster, das, von einem kleinen Guckloch in der Ecke abgesehen, mit allerlei Abfällen zugestellt war.
»Ich sagte, ich übernehme die erste Wache«, stellte ich etwas barscher als beabsichtigt klar, woraufhin er sich ungeduldig am Kopf kratzte und eine finstere Miene aufsetzte.
»Warte«, rief ich, als er zur Treppe zurückging. »Bleibst du?«
Langsam drehte er sich um, und ein leichtes Lächeln nahm mir einen Teil meiner Nervosität.
Eine Kette fiel aus der Tasche meines zusammengefalteten Rocks und prallte von dem ölbefleckten Boden ab, als ich mich auf die offene Ladefläche des Horizon-Lieferwagens zog. Chase hob sie auf, ehe er sich zu mir setzte, nahe genug, dass unsere Beine sich hätten berühren können, hätten wir es nicht vermieden.
»Wo hast du das her?«, fragte er und musterte das Medaillon im Licht der Taschenlampe.
»Das ist ein Geschenk von der Frau, die Sarah versteckt hat.« Ich zwang mich zu gähnen, um die Spannung aus meinem Kiefer zu nehmen.
»Du solltest gut auf sie aufpassen.« Er reichte es mir, und seine Finger verweilten ein paar Sekunden länger als nötig in meiner Handfläche. Wie immer war seine Haut so warm, als hätte er einen Ofen in seinem Inneren, und unter seiner Berührung wurden die harten
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