Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
So, dass niemand zweimal hinsieht. Und dann … dann bin ich gelaufen. Ich kannte das Haus noch von der Revision, aber ich wusste nicht mehr, in welcher Straße es ist. Aber ich wusste auch nicht, wohin ich sonst gehen könnte. Mann, sie ist tot.«
»Halt’s Maul«, befahl Chase eisig. »Sie ist nicht deine erste Leiche.«
Mir jagte ein kalter Schauer über den Rücken.
»Wir müssen weg«, sagte ich. »Sofort. Noch in dieser Sekunde. Er darf nicht in diesem Haus sein.«
»Wir holen den anderen Wagen«, meinte Sean.
»Nein.« Auf keinen Fall würde ich hier in dem Wissen weggehen, dass Tucker jederzeit zurückkommen und Beth holen konnte.
»Nein«, sagte auch Chase. »Er kommt mit uns. Ich lasse ihn nicht mehr aus den Augen, bis wir die Gegend verlassen haben.«
Tucker nickte dankbar.
»Danke«, sagte er leise. Mir wurde übel. Erst eine Entschuldigung und jetzt auch noch ein Dank? Das fühlte sich ganz und gar nicht richtig an.
»Beth, verschwinde von hier«, verlangte ich. »Geh nach Hause. Sofort. «
Das war alles. Ich stieß sie zur Hintertür hinaus, und sie rannte, und ich hoffte, sie würde nie, nie zurückkommen. Stephen sah nur verständnislos zu, doch ich hatte ihm nichts zu sagen.
»Leb wohl«, hauchte ich und starrte in das schwarze Loch von einer Nacht, in dem sie verschwunden war. Ich hatte mich nicht einmal von Angesicht zu Angesicht von ihr verabschiedet, und ich würde ihr nicht mehr sagen können, wie sehr ich sie liebte und dass die Erinnerung an sie mir meine geistige Gesundheit erhalten hatten. Es war genauso wie damals mit meiner Mutter, nur dass dieses Mal ich diejenige war, die verschwand.
Leb wohl , sagte ich. Zu dem kleinen Mädchen mit den schiefen Brauen, das sich das Haar mit der Schere seiner Mutter geschnitten hatte. Zu dem Geruch der Vanilleduftkerzen während der Sperrzeit. Zu den kraftlosen Pflanzen auf dem Fenstersims in der Küche, der Haarbürste auf dem Waschbecken im Bad, die wir uns geteilt hatten, und zu all den Gutenachtwünschen vor dem Zubettgehen.
Leb wohl, Mom.
Wir liefen auf tauben Füßen durch Chase’ Garten. Mein Kopf fühlte sich benebelt an. Umwölkt. Ein Gefühl von Desillusionierung lag in der Nachtluft. Ohne jeden Zweifel wusste ich, dass ich nie mehr zurückkehren würde.
Es ist nur ein Haus, hatte Chase gesagt. Nur ein Haus, kein Zuhause. Nur eine Hülle. Ein Gefäß. Ich wollte es begraben, so wie ich auch den Leichnam meiner Mutter begraben wollte. Damit es ruhen konnte. Damit ich mich nicht fragen musste, was mit ihm geschah, nachdem sein Leben vorbei war. Ich wollte, dass Beth am Leben und in Sicherheit war. Für heute Nacht war sie es, und ich nahm an, mehr konnten wir einfach nicht erwarten.
Ich wusste nicht, warum Tucker hier war. Ich wusste nicht, wie Cara umgekommen war oder warum er so weit gefahren war, um ausgerechnet uns um Hilfe zu bitten. In der einen Sekunde überlegte ich, ob er sie getötet hatte, in der nächsten war ich überzeugt, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Was immer der Fall war, wir mussten ihn schnellstens aus der Stadt schaffen. Er war eine scharfe Granate. Er war Gift.
Wir gingen zum Wagen und waren kaum eingestiegen, da startete Chase schon den Motor. Tucker platzierte er hinter mir und der Trennscheibe, sodass er ihn stets aus dem Augenwinkel beobachten konnte.
Wir fuhren weg von unseren Häusern, von dem Spukhaus, vor dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, von der Mauer, an der ich ihn schneller hatte laufen sehen als Matt Epstein. Vorbei an Beths Straße. Vorbei an der Ecke, an der es zur Western High ging. Auf den Highway, wo der Asphalt trotz unserer Scheinwerfer von der schwarzen Nacht verschluckt wurde.
»Fahr durch«, sagte ich.
Chase antwortete nicht. Er sah mich nicht einmal an.
Tucker und Sean redeten ein bisschen. Ich bemühte mich, zu lauschen, aber ihre Stimmen wurden durch das Glas zu sehr gedämpft. Dass er direkt hinter mir war, war mir zuwider. Es fühlte sich an, als würde jemand eine geladene Waffe auf meinen Rücken richten. Ich setzte mich seitlich auf den Sitz, den Rücken dem Fenster zugewandt, damit ich alle anderen sehen konnte. Tucker hielt den Blick gesenkt.
Die Atmosphäre im Wagen wurde immer gespannter. Chase machte mir allmählich Sorgen. Die vielen Stunden ohne Schlaf zehrten an ihm, aber für die gespannten Muskeln in seinem Kiefer und seinem Nacken war nicht allein die Erschöpfung verantwortlich. Dass Tucker in meinem Haus aufgetaucht war, hatte ihn zutiefst
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