Gesetzlos - Roman
es mir, das ist der Moment! Wir werden uns beide besser fühlen, wenn wir darüber geredet haben!« Vielleicht hätte ich es tun sollen, vielleicht hätte er sich gehen lassen, vielleicht hätte sich unser beider Leben verändert? (Nein, er hätte nicht geantwortet, das weiß ich, bestenfalls im Scherz.)
Es war zwei Uhr morgens. Ich spielte Maxime das Prélude von Bachs zweiter Englischen Suite vor, zu langsam und zu schlecht, dann verabschiedete ich mich. Am nächsten Morgen hatte ich früh Unterricht. Bevor ich aufbrach, begutachtete Maxime noch einmal den geschenkten Brieföffner und fand das Metall an einigen Stellen etwas trüb. Er legte es ein paar Sekunden in ein Silberbad, spülte es anschließend unter Wasser und wischte es sorgfältig trocken.
»Hier! Das sieht schon ganz anders aus, was?«
»In der Tat, ganz anders«, sagte ich. »Danke.«
Das Ergebnis war spektakulär, das Messer funkelte.
Am Lancia gingen wir auseinander.
»Pass auf dich auf«, sagte Maxime, der diesen Ausdruck mochte. »Alles Gute für morgen. Ich wünsche dir morgen einen klingenden Tag. Einen, der richtig, nicht falsch klingt.«
»In Ordnung, danke. Man weiß ja nie, was die Vergangenheit so alles für einen bereithält …«
»Haha!«
Auf dieses Bonmots von guten Freunden, die eine Flasche Champagner getrunken haben, obwohl sie das Trinken nicht gewohnt sind (weder Maxime noch ich hatten eine besondere Vorliebe für Alkohol), und mit einem letzten verschworenen Lachen fuhr ich von ihm fort.
K APITEL 3
DER ÜBERFALL
Was weder Nacht noch Flamme werden kann,
verschweigt man lieber
.
Catherine Pozzi
Spendet im Juni die Wiese nichts
ist sie ein rechter Taugenichts
.
(Sprichwort)
Am Montag, den 6. Juni ’66, trat gegen Tagesende Albin Nomen gedankenverloren in das Zimmer seiner achtjährigen Tochter Lucie. Er sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen, ihm den Rücken kehrend, vielleicht mit Schreiben beschäftigt. Da fuhr sie so abrupt herum, dass ihr langes blondes Haar bei der raschen Bewegung durch die Luft flog.
»Womit warst du denn gerade beschäftigt?«, fragte Albin. »Aber du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst …«
»Doch, ich will gern«, sagte Lucie, die sich ein wenig wand.
Albin spürte, dass sie tatsächlich gern reden wollte, ihr Winden bewies es.
Er kam ihr zur Hilfe:
»Schreibst du?«
»Ja. In Mamas hübsches Heft.«
Éva, Lucies Mutter, hatte das Heft lange vor Lucies Geburt im Atelier des florentinischen Herstellers
Giulio Giannini e figlio
gekauft. Der Umschlag war aus hellem Leder. Der Schnitt schien mit grünen Blumen oder, wenn man ihn unterm Mikroskop betrachtete, mit irgendeinem Zellstoff bedruckt zu sein. Die Seiten waren durch und durch weiß, tiefweiß, milchweiß. In seiner jungfräulichen Vollkommenheit war das Heft so schön, dass man beim Hineinschreiben das Gefühl hatte, es zu besudeln. Es war sich selbst genug, hatte Éva gedacht und es so belassen, bis zu dem Tag, an dem sie es ihrer Tochter geschenkt hatte (siewar an diesem Tag bedrückt gewesen und hatte beim kleinsten Anlass losgeheult).
Albin sah Lucie tief in die grünen Augen, deren Reinheit, Klarheit und Sanftmut ihn jedes Mal entzückten.
»Und was schreibst du? Magst du es mir erzählen?«
»Ja. Ich schreibe auf, was ich tagsüber gemacht habe. Die Leute, die ich getroffen habe. Ob ich Bauchschmerzen hatte, wie letztens, als ich die Kirschen aufgegessen habe.«
»Du führst also Tagebuch. Schon seit Langem?«
»Ich führe Tagebuch?«
»Ja. Was du machst, nennt man Tagebuch führen. Es ist ein bisschen so wie die Tageszeitung, die man am Kiosk kauft, in der man täglich lesen kann, was in diesem Land und in der ganzen Welt passiert ist. Bei dir hingegen findet man nur das, was dir passiert ist. Und der Schreiber bist du, man kann es nicht am Kiosk kaufen.« (Kleines Lachen von Lucie.) »Und, schreibst du schon lange?«
»Nein, noch nicht lange. Seit acht Tagen. Eines Abends habe ich meinen Kugelschreiber genommen und angefangen.«
»Und hast du heute schon geschrieben?«
»Heute? Nein, nicht viel. Fast gar nichts. Willst du es sehen?«
»Ja!«
Er beugte sich vor und las laut:
»Kolia mag seine Kroketten nicht mehr. Er mag lieber überbackene Jakobsmuscheln. Und er mag Papa lieber als Mama.«
Kolia war die Katze des Hauses. Albin lächelte.
»Das mit den Kroketten stimmt«, sagte er. »Was Mama angeht, weiß ich nicht. Vielleicht weil ich dem Kater zu fressen gebe, verstehst du. Da interessiert er sich
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