Gesetzlos - Roman
Wort, das ich sagte, überzeugt.
Der Gedanke an Clara wurde von Minute zu Minute obsessiver. Ich war entschlossen, Miguel Herbés Fährte bis zum Ende zu verfolgen.
Als Armand Nathal von den fünfzigtausend Euro hörte, begannen seine Lider heftig zu klimpern, als hätte er ein paar Spritzer Essig ins Auge bekommen. Dann kletterten seine Augenbrauen wieder weit die Stirn hinauf und fanden anschließend nur noch mit Mühe den richtigen Abstand zu den Augen.
»Sehr schön«, sagte Miguel. »Also, wo treffen wir uns?«
»Wo Sie wollen.«
»Bei mir!«, rief die kindliche Irène, die anscheinend begriffen hatte, worüber gesprochen wurde. »Inès weiß, wo ich wohne!«
»Bei Irène?« schlug ich vor.
»In Ordnung, bei Irène.« (Eine Frauenstimme am Telefon: »Kann ich mitkommen? Ich weiß, wo sie wohnt!« Miguel Herbé gab laut flüsternd zurück: »Ja!«, beinahe »Japst«, eine Mischung aus »Ja« und »Pst«.) »Wann? In einer Stunde?«
»Sagen wir anderthalb.«
»In Ordnung. Um zweiundzwanzig Uhr bei Irène.«
Wir legten auf.
»Miguel und Inès!«, rief Irène fassungslos. »Ich wusste zwar, dass sie imstande waren, Kreditkarten zu fälschen, aber eine Entführung! Der totale Hammer!«
Da klingelte ihr Telefon, laut, durchdringend, gellend. Sie stellte es ab und schaute nach, wer angerufen hatte.
»Belanglos«, sagte sie, jede Silbe betonend.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst den Klingelton ändern«, sagte Armand, »oder es wenigstens leiser stellen.«
»Dann höre ich es nicht«, gab Irène seelenruhig zurück (man konnte sich leicht vorstellen, dass keine Macht der Welt sie hätte zwingen können, ihren höllischen Klingelton auch nur um einen Dezibel leiser zu stellen – und doch, wie man sehen wird …).
»Wie ich annehme«, sagte ich zum Rechtsanwalt, »haben Sie im Kern begriffen, was Miguel Herbé und ich besprochen haben?«
Ja, er hatte begriffen, sein pferdegleiches Kopfnicken bedeutete es mir.
Kurz darauf verabschiedeten wir uns. Ich überließ Armand Nathal seiner Dummheit und seiner Eitelkeit, seinem düsteren Wesen, seinen wichtigen Geschäften sowie seinen Berechnungen des ihm zustehenden Anteils an den fünfzigtausend Euro – auf Nimmerwiedersehen.
Etwas weniger abstoßend war Miguel Herbé, eine kleine sorgengeplagte Kröte …
Nein: Bevor wir zu Irène gingen, um Miguel zu treffen – die kleine sorgengeplagte Kröte, die mit Clara Nomen, der Entführung einer jungen reichen Frau und der Lösegeldforderung gegenüber ihrem Onkel, den Coup ihres Lebens landen wollte – doch der Coup war missglückt und Clara entwischt, blitzschnell in einem Métro-Eingang verschwunden, auch wenn er anderer Überzeugung war – genau im Moment der geplanten Entführung von jemand anderem entführt? Undenkbar, völlig undenkbar! Oder aber er log, aus einem mir unbekannten Grund? Nein. Aber das würde ich schon merken, wenn er mir erst gegenübersäße. Na ja, würde ich es wirklich merken? –, vorher, sagte ich also, fuhr ich noch bei mir in der Rue des Martyrs vorbei (mit einer gewissen Härte – einer Härte, an der es mir häufig gemangelt hatte, wenn ich meine Schülerinnen am Institut Benjamin tadelte – zu Irène: »Warten Sie hier, ich bin in zwei Minuten zurück«),um aus dem grünen Koffer im Regal mit den Wörterbüchern die fünfzigtausend Euro in schönen Scheinen zu nehmen, die ich in eine Virgin Store-Plastiktüte stopfte.
Und abschließend drei, vier Tesa-Streifen drauf.
Wann würde man Maximes Leiche entdecken? Wer würde sie entdecken?
Und Michel Nomen, wer würde sich über sein Verschwinden beunruhigen?
»Ich bin hungrig«, sagte Irène im Auto, und zwar in einem Ton, der mir zu unterstellen schien, ich wäre daran schuld.
»Schade, wenn Sie das vorher gesagt hätten, hätte ich Ihnen ein Stück Kuchen von oben mitgebracht, irgendetwas … na ja, dann eben später.«
»Schon. Aber ich bin jetzt hungrig.«
Ich sah sie an. Meinte sie das ernst? Ja, das tat sie (genau wie vorhin auf dem Boulevard Voltaire, als sie auf dem breiten Bürgersteig moniert hatte, sie würde wegen der zu kühlen Brise frösteln, wie bitte, die Außentemperatur war nicht auf ein Viertelgrad genau auf ihr Bedürfnis abgestimmt?), sie war kindisch und bockig, nun hatte sie also Hunger, und darum sollten Erde und Sterne stillstehen, sobald ihr Wohlbefinden es erforderte, und sie ernähren, wenn Herr Appetit bei ihr anklopfte. Ich führte das Argument ins Feld, dass wir in einer halben
Weitere Kostenlose Bücher