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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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ihm begegnete, daher der Eindruck einer gewissen Unbeholfenheit bei den Bewegungen. Er hatte sich am Morgen des 24. einen winzigen Hexenschuss zugezogen, nachdem er zu heftig aus dem Badezimmerfenster gespuckt hatte, auf die zwei Meter entfernte, gegenüberliegende Wand, eine Übung, die er täglich wiederholt, wobei er jeden Tag versucht, den Rekord des Vortages zu schlagen, Irène weiß das von Inès.«
    »Inès, hyperagiler Blick, rote Spange im roten Haar, schlafen Bruder und Schwester miteinander oder haben sie miteinander geschlafen? Das hat sich Irène gefragt. Beide führen nebenbei Beziehungen, was mich ein wenig überrascht, als ich es erfahre. Inès’ Gesicht ist so beweglich, so ausdrucksstark, dass man Mühe hat, es überhaupt zu sehen, seine Struktur zu erblicken, eine Überfülle von Trillern, Vorhalten und Doppelschlägen, ja, bei ihrem Anblick muss ich an manche Interpretationen Alter Musik durch zeitgenössische Musiker denken, die sich beim Spielen an die in irgendwelchen Abhandlungen belegte historische Aufführungspraxis halten und dem Stück derart viele Verzierungen hinzufügen, dass es schließlich, seines Skeletts beraubt, unter der Notenlast zusammenbricht. Diese erbärmlichen Figuren! Bloße Wiedergänger, die in Ermangelung einer eigenen, individuellen Existenz und Wahrheit beschlossen haben, sich durch rein äußere Imitation in alte Interpreten alter Komponisten zu verwandeln, dazu Instrumenten verwenden, die Kopien alter Instrumente sind, sich Perücken aufsetzen, an alten Abhandlungen festhalten (ähnlich wie jene Touristen, die ferne Länder besuchen und sich, um nicht aufzufallen, wie in den Reiseführern kleiden und dadurch die Aufmerksamkeit der ganzen Straße auf sich ziehen, weil sie sich in dem Aufzug stärker von den Einheimischen unterscheiden, als wenn sie ihren üblichen Anzug mit Krawattetrügen) und, da sie die Musik in dem Zustand gefangen halten, in dem sie sich bei ihrer Geburt befand, nur erreichen, dass das Kind in der Wiege erstickt. Da fällt mir auf, dass ich die Gelegenheit genutzt habe, meine eigene Vorgehensweise als Arrangeur zu rechtfertigen, sechs Bände mit Autoren aus der Renaissance, Dutzende von Messen und gesungenen Motetten, ausgeschüttet über ein modernes Klavier, da nimm!«
    »Selber Tag, sechzehn Uhr dreißig, ich mache mich an meine erste Komposition. Ich will versuchen, zwei der musikalischen Ideen umzusetzen, die ich in das grüne Heft geschrieben habe.«
    Herbé erzählte … nichts – er hatte recht, ich bekam nichts heraus, was er nicht schon am Telefon gesagt hätte, trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der er im festen Glauben antwortete, er wäre im Begriff, fünfzigtausend Euro zu verdienen. Immerhin war er gekommen, er vertraute mir und sagte mir alles, was er wusste.
    Die Dinge waren folgendermaßen abgelaufen: Er hatte sich vergewissert, dass Claras Austin tatsächlich im Parkhaus an der Nummer 6 der Rue Halévy stand, in der Nähe der Bushaltestelle des 42ers (gegenüber vom Dessousgeschäft Orcanta), wo er bis fünfzehn Uhr gestanden hatte (wie einer, der auf den 42er wartet). Der ideale Beobachtungsposten. Er konnte das Portal des Wohnhauses neben der amerikanischen Apotheke in der Rue Auber, wo im siebten Stock Mireille Bel lebte, und gleichzeitig schräg gegenüber die gesamte Opernfassade und den breiten Bürgersteig im Auge behalten, auf dem er für etwa dreißig Sekunden Clara in einem hellgrünen Kleid entlanggehen sah. Just als er zum Parkhaus zurückkehren wollte – er hatte sich ein Fläschchen mit einer anästhesierenden Flüssigkeit besorgt, mit Hilfe eines gewissenlosen Apothekers, der ihm vor einiger Zeit drei Kartons eines Schlafmittels verkauft hatte, das gerade vom Markt genommen worden war – der Apotheker wusste genau, über welche Kanäle und wem er das Produkt andrehen konnte, das für seine euphorisierende Wirkung und die Nierenschädenbekannt war, die es bei seinen Nutzern verursachte –, sein Plan war es, Clara einzuschläfern (er hatte Angst, er hatte eine solche Tat noch nie begangen), sie (vorsichtig) auf die Hinterbank des Austins zu legen und aus dem Parkhaus zu fliehen, mit der Tollkühnheit eines kleinen unerfahrenen Ganoven, der hofft, nicht erwischt zu werden –, also just, als er sich umdrehen und zum Parkhaus hinuntergehen wollte, hatte er Clara aus den Augen verloren. Er erinnerte sich an eine vage Geste, die sie gemacht hatte (reichte sie jemandem die Hand? Nein, niemand hatte ihre Hand

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