Gesetzlos - Roman
Boden meiner unwirklichen Situation gestemmt, in der Rue Saint-Augre auf die Ankunftvon Miguel und Inès, die nicht lange auf sich warten ließen und Punkt zweiundzwanzig Uhr bei Irène klingelten, haargenau anderthalb Stunden nach unserem Telefongespräch bei Nathal.
Inès war rothaarig. Ihr expressives Gesicht war ständig in Bewegung, im Haar trug sie eine rote Spange, die den Blick auf sich zog. Es war Inès peinlich, Irène unter diesen Umständen wiederzusehen, als Komplizin bei einer Entführung mit Lösegelderpressung, und Irène war verlegen, weil sie ihr bisher noch nichts von ihrem neuen Geliebten erzählt hatte – dessen ungeachtet gaben sich die beiden jungen Frauen einen Kuss auf die Wange und flüsterten sich etwas ins Ohr.
Ich begrüßte Inès und dann ihren Bruder mit einem Kopfnicken. Ich tat alles, um sie zu entspannen. Mir ging es einzig und allein darum, von Miguel irgendeine hilfreiche Information zu bekommen, die mich auf Claras Spur brächte, um ihn anschließend getrost für immer zu vergessen. Noch bevor wir uns zu viert um einen quadratischen weißen Holztisch setzten (auf den Irène merkwürdigerweise die künstlichen Blumen gelegt hatte: Wir sahen aus wie ein Paar, das ein anderes Paar empfing, ein ärmliches Treffen mit Freunden an einem Samstagabend in einen trostlosen Viertel – was wir tranken, war ganz unerheblich, Mineralwasser, glaube ich, schon abgestandenes Mineralwasser, denke ich, Irène war geizig, außerdem hatte sie nichts in den Schränken, man fragte sich, ob die Wohnung überhaupt bewohnt war), Miguel sagte, Clara wäre kein Haar gekrümmt worden, wenn er sie entführt hätte. Spielschulden hätten ihn dazu gezwungen, er habe nicht anders handeln können, keinen anderen Ausweg gesehen. Er bedauerte dies zutiefst. Gern hätte er mir das erpresste Geld zurückgegeben. Aber tja … seine Schwester Inès bestätigte das kopfnickend. Im Übrigen bestätigte sie alles, was er sagte, und wiederholte in penetranter Manier die letzten Wörter seiner Sätze.
»Lassen wir diese Fragen doch beiseite«, sagte ich, »erzählen Sie mir lieber noch einmal die Geschichte mit Clara, ohne ein Detail auszulassen.«
War sein Bedauern echt? Möglich. Vielleicht schämte er sich, zumindest mir gegenüber, so erbärmlich zu sein, wie er war. Aber ich bin noch gar nicht auf das Aussehen dieser Witzfigur eingegangen. Er war groß, blond, elegant gekleidet, athletisch (obwohl er sich nur langsam bewegte, als hätte er ein Rückenleiden), sein leicht gewelltes Haar war zurückgekämmt. Sein Gesicht hätte sogar gefällig sein können, wäre da nicht diese gewisse Ähnlichkeit mit einem Unterwassertier, einem Fisch gewesen, was wohl auf seine halb zusammengekniffenen Augen, seine rundlichen Wangen und sein ewiges Lächeln, das unecht wirkte, zurückzuführen war. Seine Schwester und er …
Aber um Zeit zu sparen – ja auch wegen des leichten Abscheus, den ich in Gesellschaft dieser Figuren empfinde – und um die unliebsame Nähe, die bei meinem Bemühen um ihre sorgfältige Beschreibung entstanden ist, wieder zu zerstören, werde ich im Folgenden bloß die zwei oder drei Zeilen wiedergeben, die ich mir nach einem Gespräch mit Irène notiert hatte – denn während des kurzen Aufenthalts von Irène bei mir in der Rue des Martyrs hatte ich begonnen Notizen zu machen, einen Bericht über die außergewöhnlichen Ereignisse meines Lebens zu verfassen (wenn ich allein daran denke, unter welch unglaublichen Umständen ich eines Tages Clara Nomen gegenüberstehen sollte!)
Hier nun also.
»27. Mai, nachmittags. Miguel und Inès. Vater: Industrieller, Maschinenbau, Spanien, eröffnet eine Fabrik in Lyon, dann in der Pariser Vorstadt. Zieht um und lässt sich in Frankreich nieder. Miguel, in Spanien geboren, Inès in Paris. Stehen sich beide sehr nahe. Ihren Eltern gegenüber feindliche Gefühle. Von zu Hause abgehauen. Kleinkriminalität von Kindern reicher Eltern. Inès allerdings eher gute Schülerin. Mag Kinder, wird Grundschullehrerin. Rückfall durch Miguel, der sich mit zahllosen kleinen Jobs über Wasser hält, darunter Reifenhalter für Zirkushunde, Trapezkünstler im selben Zirkus, ausgebildet von dem Star-Trapezkünstler, der ihn ins Herz geschlossen hat, aber seine instabileWirbelsäule zwingt ihn, eine vielversprechende Karriere früh aufzugeben, Miguel ist untröstlich. Der Vater enterbt ihn, stirbt. Sie geraten auf die schiefe Bahn.«
»Miguel hatte starke Rückenschmerzen, als ich
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