Gesetzlos - Roman
Stunde ohnehin bei ihr wären und unser Zeitplan nicht erlaubte, bei Marie Sud-Est zu speisen (ein berühmtes Lokal, an dem wir vorbeifuhren, in der Rue de Richelieu, ganz in der Nähe der Bibliothèque Nationale), aber bevor sie ohnmächtig würde, könnte ich an der nächsten Bäckerei halten, damit sie sich ein Sandwich kaufen konnte.
Mein Vorschlag verärgerte sie.
»Nein, kein Brot. Das versuche ich zu meiden, ich achte nämlich auf meine Figur. Ich esse bestimmt schon so zuviel Brot.«
Schon bald sollte ich feststellen, dass ihre Diät vor allem verbaler Natur war und sie keinerlei Bedenken hatte, sich womitauch immer vollzustopfen, wenn sie nur Hunger hatte. (Im Übrigen bedurfte ihre »Figur« keinerlei Nachbesserungen, sie war eher ideal.) »Kindisch«, sagte ich: Aber das hinderte sie nicht daran, angesichts ihrer eigenen Dickköpfigkeit loszuprusten und ihr trockenes Heiterkeitsgebell von sich zu geben, nachdem sie die Lösung mit der Bäckerei verworfen hatte – kindisch, und zwar wohlwissend, dass sie jeden auf die Palme brachte.
Quai de Conti.
Quai de la Tourelle, Quai Saint-Bernard, Boulevard de l’Hôpital nach rechts, nach dreihundert Metern wieder nach rechts in eine Straße, auf deren Namen ich nicht achtete, weil ich mich ganz auf die Befolgung von Irènes hungrigem Befehl – »rechts!« – konzentrierte, eine Straße, deren Name mir momentan nicht einfällt, obwohl der Stadtplan ausgebreitet vor mir liegt (aber ich war noch nie sehr begabt beim Lesen von Stadtplänen, vom Zusammenfalten ganz zu schweigen, am Ende räume ich immer eine zusammengeknüllte Papierkugel weg), die fragliche Straße mündete in die Rue de Saint-Augre (»ehemalige Rue Colas« erinnerte ein Schild), Irènes Straße: menschenleer, weder breit, noch von Bäumen gesäumt, noch sonnig, an keinem einzigen Augenblick des Tages oder des Jahres, sagte Irène. (Als sie klein war, fügte sie hinzu, hatte sie eine Katze namens Colas, »wie der Name der Straße früher, wirklich wahr«.)
Es war Vollmond, das hatte ich vorher gar nicht bemerkt.
Die Wohnhäuser, alle gleichaussehend, waren erst kürzlich erbaut worden, die Fassaden bereits schmutzig. Man musste schon einen Anwohner kennen, um sich in diese unattraktive, im Viertel der Krankenhäuser und des Todes gelegene Straße zu verirren.
Irène wohnte in der Nummer 45. Sie lebte allein in einer Dreiraumwohnung mit einem abweisenden Hof (doch nicht nur der Hof, sondern auch die drei Räume waren abweisend, ebenso die wenigen Möbel, die – mit Ausnahme des Sofas – allesamt hässlich waren). Ich sah an den Wänden die Fotos von Colas, ihrerverstorbenen Katze, auf einem Beistelltisch aus rosafarbenem Glas drei künstliche Rosen und im Schlafzimmer das Foto ihrer Mutter, einer dunkelhaarigen Frau, der Irène nicht ähnlich sah. Was den Rest anbelangte: vier Bücher und drei Schallplatten. Sie war Eigentümerin der Wohnung, die sie dank eines der krummen Geschäfte von Armand hatte kaufen können, aber sie fühlte sich darin oft niedergeschlagen, bei der ersten Gelegenheit würde sie umziehen.
Sie stürzte sich auf einen Apfel (biss mit der Mimik eines Raubtier, mit weit geöffnetem Maul, gefletschten Zähnen und in Falten gelegter Stirn hinein) und machte sich dann, nachdem sie mich ohne sonderliche Überzeugung gefragt hatte, ob ich auch etwas wollte, über einen zweiten Apfel her. Noch kauend rief sie abermals: »Inès und Miguel, eine Entführung! Dreihunderttausend Euro! Der absolute Hammer! Jedenfalls können die beiden nichts dafür, wenn Clara etwas angetan wurde, das können Sie mir glauben!«
Nach dem Zwischenspiel bei Nathal war ich zum Sie zurückgekehrt, und Irène, die in vielerlei Hinsicht widersprüchlich war – schüchtern und überheblich zugleich – hatte es mir diskussions- und kommentarlos gleichgetan.
Sie setzte sich neben mich aufs Sofa, das für den Raum viel zu luxuriös war, und erzählte mir von Inès (die genau wie sie in einer nicht allzu fernen Vergangenheit Lehrerin gewesen war, sie hatten sich an der Grundschule in Puteaux kennengelernt), von Inès, die unter dem Einfluss ihres (deutlich älteren) Bruders Miguel in die Kleinkriminalität abgerutscht war, und zwar zum gleichen Zeitpunkt wie sie, Irène, die durch einen Anwalt vom rechten Weg abgebracht worden war.
Sie hatten sich seit mehreren Wochen nicht gesehen.
»Eine Entführung!« (Jede Silbe betont, hübsch eine nach der andern.)
Und so wartete ich, beide Füße fest in den
Weitere Kostenlose Bücher