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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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ihr.
    Mein Lancia Thema, das hörte ich am Motorengeräusch, wälzte dieselben wirren Gedanken wie sein Halter.
    Ich entfernte mich von der Oper.
    Und so kam es, dass in dieser gespenstischen Nacht vom 24. auf den 25. Mai ’08 der rat- und hilflose Luis Archer in seine Wohnung zurückkehrte, in Begleitung der naiven, verschlagenen und kindischen, aber wild entschlossenen Irène Maggie Perking.
    *
Ubi lex non distinguit, nec nos distinguere debemus
– »Wo das Gesetz nicht unterscheidet, dürfen auch wir nicht unterscheiden.«

K APITEL 18
CLARAS ODYSSEE
    Darunter standen goldene Buchstaben, die man
aus der Entfernung wahrhaftig nicht lesen konnte, hing das Gemälde
doch zu hoch. Auch weiß das Märchen eigentlich nicht, was es davon
erzählen soll: drum wahrt es lieber Schweigen
.
René d’Anjou
Das Buch vom liebentbrannten Herzen
    Schon seit vier Stunden unterhielten sie sich und hatten sich doch nicht die Hälfte der Dinge gesagt, die sie sich zu sagen hatten
.
Charles Perrault,
Die schlafende Schöne im Wald

Zu Axels Besänftigungskünsten gesellte sich die Tatsache, dass schon kurz nach seinem Abflug die irdische Nacht über Claras Geist hereinbrach, und so sank sie im Schoß von Opera 2 heiter und geborgen in den Schlaf, von der Rückkehr ihres Gefährten träumend.
    Bestimmt hatte sie nicht die gesamte Zeit im Schlafzimmer verbracht, sondern war mehrmals aufgestanden, denn sie erinnerte sich, kleine runde Mürbeteigkekse gegessen zu haben, die sowohl knusprig als auch schmelzend gewesen waren (die besten aller Kekse), sie erinnerte sich, wie sie auf dem Bildschirm die malerische Kulisse betrachtete, die Nomen ihrem Blick dargeboten hatte und die ihr geradezu anbetungswürdig erschienen war, das scharlachrote Meer, die bis in alle Ewigkeit auf dem Horizont ruhende weiße Sonne, die durchsichtige, rosafarbene Luft, die Flechten, die mit den Zwergbäumen des reglosen, zerrauften Waldes verschmolzen, die winzigen roten Blumen der Lichtung, auf der Opera 2 auf Opera wartete, das schmale, weniger grelle Rot jenes Bandes, das die Lichtung durchzog und sich in der Ferne verlor, den ganzen Planeten umfasste – und erneut die Sonne, die nicht unterging, und der starke Wind, der nicht blies, und die schwarzen Ströme des Meeres, die nicht strömten (Clara hatte sich Axels Ausdrucksweise eingeprägt – und auch ich, Luis Archer, gebe sie nun wider) – und der Himmel darüber war ein Ozean der Einsamkeit und Glückseligkeit, so sah ihn Clara, und daher wirkte er auf sie beruhigend.
    Sie hätte sich als Gefangene, als Verlassene fühlen können. Sie hätte sich in den Netzen einer kosmischen Verzweiflung verfangen können, einer unentrinnbaren, geduldigen und siegessicheren Verzweiflung. Doch dem war nicht so. Clara hatte Verbündete, und so verbrachte sie die beiden Tage nicht wie jemand, der gefangen oder verlassen worden wäre, sondern behütet und geliebt wurde, umgeben von der gütigen Gegenwart dieses kleinen, reizenden Mannes – gewiss –, und darüber hinaus auch (wie sie mir zehn Tage später in Saint-Maur sagte, die Morgenröte eines Lächelns auf den Lippen, oder nein, den Beginn einer Morgenröte, die bloße Veränderung der Gesichtszüge – nicht einmal das, das Fehlen jeglicher Veränderung der Gesichtszüge, das auf fast magische Weise wahrnehmbar wurde –, die ihr Lächeln ankündigte; nicht sichtbare, aber spürbare Anzeichen, die, wie ich ihr an einem anderen Tag sagte, einem späten Nachmittag im Juni, da ich mit ihr über ihre Schönheit sprach, wenige Stunden nachdem ich das Buch ihres Onkels Michel Nomen
Las Meninas
, Azur Verlag, erschienen in der Reihe »Die Meister der Vergangenheit«, gelesen hatte, Anzeichen eines Lächelns, die, wie bereits gesagt und wie ich ihr sagte, auf einem anderen, ebenfalls von ihrem Onkel erwähnten Gemälde:
Merkur und Argus
, das mörderische Leuchten evozieren konnten, das zwar nicht gemalt war, aber gleichwohl unter Merkurs Hut auf blitzte, als dieser sich anschickte, Argus zu töten, nachdem er ihn in einen unheilvollen Schlaf versetzt hatte), und darüber hinaus auch, sagte sie mir – im rechten Mundwinkel das allein wahrnehmbare Leuchten eines ansonsten nicht erscheinenden Lächelns –, von einer gutherzigen weiblichen Gegenwart umhüllt, der von Alma Perez, an die sie, wie sie sich nun erinnerte, jeden Augenblick gedacht hatte, das Gesicht ihrer Alma war immer präsent, immer vor ihr gewesen, hatte sie mit ihren leicht mandelförmigen Augen liebevoll

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