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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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genommen, da war er sich sicher), vielleicht noch an ein Lächeln (an irgendeine Veränderung der Physiognomie), dann war sie verschwunden, wie vom Boden verschluckt. Er war ein Dutzend Schritte vorgegangen, um sich zu vergewissern, nein sie war nicht mehr da, sie war nirgends mehr!
    »Kann es nicht sein, dass sie von anderen Fußgängern verdeckt wurde, bis sie die U-Bahn erreicht hat?«
    »Nein. Aber denkbarer als ein übernatürliches Verschwinden, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Nein, nein, das hätte ich gesehen, das hätte ich gemerkt!«
    Den Gedanken, dass Miguel Herbé mich womöglich anlog, verjagte ich endgültig aus meinem Kopf, samt der Zweifel an dieser Vermutung. Er hatte keinen Grund, kein Interesse daran.
    Eine weitere Notiz vom 27. Mai: »Meines Erachtens hat Herbé nicht gelogen. Clara wurde von niemandem entführt. Sie ist von selbst verschwunden. Was steckt bloß hinter dem Rätsel? Am Sonntag, als Herbé endlich den Mund aufmachte, um von seiner Entführung ohne Entführung zu berichten, hatte ich den (ebenso rätselhaften und schon beim Warten auf ihn und seine Schwester verspürten) Eindruck, dass das Schicksal beschlossen hatte, mir zu helfen, indem es mich genau in dem Moment mit dem verwirrten Entführer zusammenbrachte, als er von einem Verbrechen erzählen wollte, das sich tatsächlich nie ereignet hatte – was genau wollte ich eigentlich sagen? –, ja, als hätte die Zeit auf Anweisung des Schicksals bei Claras Verschwindenstillgestanden, damit ich dieses Innehalten nutzen, die Tragödie abwenden und einen neuen Lauf der Ereignisse erfinden konnte. Doch leider – ach! – war dem nicht so – ein Winkelzug des Schicksals? –, zumindest nicht soviel ich wusste.
    Miguel, der bei dem Gedanken, dass ihm ein Geschäft durch die Lappen ging, wütend wurde, rief seine Schwester Inès an, um sie über die unbegreifliche Wendung zu informieren, und so war Inès die Idee des Tauschs gekommen, Irène an Stelle von Clara, eine waghalsige, gefährliche Aktion, die letztlich aber, alle Hoffnungen übersteigend, zum Erfolg führte, da sie sich am Ende sogar dreihundertfünfzigtausend anstatt nur dreihunderttausend Euro unter den Nagel rissen.
    Anruf bei Armand Nathal, usw.
    »Woher haben sie all die Informationen über Clara?« fragte ich Miguel. »Über ihr Vermögen, ihren Onkel, ihre Gewohnheiten, ihre Übungsstunden bei Mireille Bel, ihren Tagesablauf?«
    »Von einem Informanten, der bereits viel wusste und Nachforschungen für mich angestellt hat. Ausgeschlossen, seinen Namen zu verraten (sagte er, seinen Mund zu einem Hechtmaul verziehend, so gern hätte er geantwortet und so unmöglich war es ihm).«
    Ich hakte nicht nach. Es war unwichtig. Der Name war mir egal. Ich hatte Inès und ihn lange genug gesehen: Ich gab ihnen das Geld und fort waren sie, Fischmaul und Rotspange, ohne dass ich sie je wiedersah.
    Ich blieb allein mit Irène (die mich fortwährend mit den Augen verschlang).
    »Was wollen Sie jetzt unternehmen?«
    »Nichts«, sagte ich ihr. »Das stumpfe Warten ertragen. Hoffentlich wird es nicht zu lang! Auf gute Nachricht von Mireille Bel hoffen. Auf den beifälligen Bericht über ein Unglück als reißerische erste Meldung in den Fernsehnachrichten.«
    Sie dachte nach, zögerte einen Augenblick und dann (Schmollmund):
    »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie mir nicht alles über Ihr Verhältnis zu dieser Clara gesagt haben …«
    Nein, ich hatte ihr nicht alles gesagt. Clara würde ich, wenn das Schicksal es zuließ, alles erzählen, über Maxime, mein blankes Entsetzen in der Nummer 3 der Impasse du Midi, meine Flucht, Michel Nomens betörendes Gemälde über dem Klavier, ich heiße Luis Archer – Luis Archer … der Musiker, der Arrangeur? – ja, höchstpersönlich, das Café de l’Opéra, der Wunsch, sie um jeden Preis wiederzufinden …
    Ich befriedigte Irènes Neugier, indem ich eine entfernte verwandtschaftliche Beziehung erfand, eine unendliche Zuneigung, eine hoch beglückende geistige Nähe, eine Welt, die ohne sie unvollständig wäre, dies als rasche Erklärung, warum ich mit solchem Eifer nach ihr suchte – und kaum hatte ich das letzte Wort meines Redeschwalls gesprochen, drang aus einem anderen Zimmer oder einem anderen Ort in diesem Haus ein lautes unangenehmes Geräusch zu uns durch: eine Spülung, ein Müllschlucker? Oder der chaotische Lärm eines Wasserhahns (Sie wissen schon, dieses aggressive Ächzen, das einen zusammenzucken lässt, wenn man den

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