Gesetzlos - Roman
feindseligen Blick eines Menschen aufgesetzt hatte, der sich geschworen hat, seinem Gegenüber binnen kürzester Zeit den Garaus zu machen).
Sie stieg die fünf Stockwerke am liebsten zu Fuß hinauf und hinunter, damit nicht das gedämpfte Geräusch des Aufzugs, sondern das fordernde Schrillen der Türklingel sie ankündigte. (A propos Forderung, ihr gegenüber hatte ich nur eine, dafür umso striktere: Als sie abends wieder auftauchte, verlangte ich, dass sie ihr Telefon ab sofort bei mir auf lautlos stellte, worauf sie zähneknirschend eingehen musste, auch wenn ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, um den Hass, den sie versprühten, noch gezielter auf mich richten zu können.)
Nachdem sie ihre Drehung vollführt hatte und in das mit einem dicken roten Teppich ausgelegte Treppenhaus verschwunden war, fühlte ich mich erleichtert und besorgt zugleich. Was sollte ich mit diesem angebrochenen Sonntagnachmittag anfangen? Ich schleppte mich ins Bad. Mein Anblick im Spiegel erschreckte mich, der leere Ausdruck eines Tiers, dem man im Schlachthausden ersten Schlag beigebracht hat, aschfahles abgespanntes Gesicht. Nach einem ausgiebigen Bad zog ich das Bett ab und wechselte die Laken, wobei ich (trotz ihres nächtlichen »neins«) an das Risiko einer Empfängnis dachte, dem wir in unserer blinden Hingabe keinerlei Beachtung geschenkt hatten – aber am Abend beim Essen sollte mir Irène erklären, dass die Möglichkeit, schwanger zu werden, für sie nicht bestand. Sie hatte als Jugendliche eine gefährliche Infektionskrankheit gehabt, die ihren Körper auf immer mit Unfruchtbarkeit geschlagen hatte. Was andere Gefahren betraf, und zwar ganz gleich wie weit und unermüdlich wir im Laufe der Nächte in Venus’ Gefilde vorgedrungen waren, fürchtete sie keinerlei tödliche Folgen (was für ein Vertrauensbeweis, ich kann es nur wiederholen!), die im Zusammenhang mit unserer fleischlichen Vereinigung gestanden hätten (im Gegensatz zu unserer geistigen Vereinigung, die gleich Null war).
In der Stille und Ruhe meines Musikzimmers gab ich dann dem Impuls nach, ein paar hastige oder auch ausführlichere Notizen über die letzten Ereignisse meines Lebens in das Heft mit dem blutroten Ledereinband zu schreiben, das Maxime mir geschenkt hatte (und auf dessen erste Seite ich den kleinen Vierzeiler notiert hatte, den ich mir jeden Tag wie ein Gebet aufsagte), mit der (noch zögerlichen) Absicht, sie später in eine Art autobiographischen Bericht einzufügen.
Ich legte Zeugnis ab über Maximes Tod am Vortag. Über die Episode mit dem Aktenkoffer (der zugleich mein Eigentum und mein Diebesgut war), über meinen Aufenthalt bei den Nomens und Claras Portrait über dem Klavier.
Um sechzehn Uhr räumte ich das Heft in ein Schubfach meines Spanischen Schranks, und in ein anderes, größeres, abschließbares Schubfach den grünen Aktenkoffer (mit dem dunkleren Deckel), der nun nur noch sechshundertfünfzigtausend Euro enthielt.
Um sechzehn Uhr sechzehn rief Mireille Bel wieder an. Wie erwartet, nichts Neues. Aber sie hatte am Morgen einen jungenmusikversessenen Kommissar am Telefon gehabt, der ihre Besorgnis sehr ernst genommen hatte. Dieser Kommissar namens Tony Tugsa gehörte zu der berühmten »Abteilung für vermisste Personen« bei der Generaldirektion der Kriminalpolizei, und Mireille Bel war sich zumindest in einem sicher: Dank der Sympathie, die er für sie empfunden hatte, würden die Ermittlungen mit Unterstützung modernster Technik so schnell und kompetent wie eben möglich durchgeführt werden. Umso besser, aber als sie mir berichtete, dass dieser Tony Tugsa von »Zeugenaufruf« gesprochen hatte, bekam meine Freude einen Dämpfer. Ein Zeuge – nein, nicht »ein« Zeuge, sondern »der« Zeuge, besser noch: der Zeuge Miguel Herbé, dessen Rolle (die Rolle seines Lebens) für einige Minuten darin bestanden hatte, Claras Tun und Treiben im Augenblick ihres Verschwindens zu erforschen, hatte nichts gesehen. Ich bedankte mich bei Mireille Bel und wünschte uns eine baldige Zusammenkunft unter einem besseren Stern, zum Beispiel sobald Clara wieder aufgetaucht wäre, also bald, das hofften wir beide von ganzem Herzen.
In dem Moment, in dem ich den Hörer auflegte, klingelte es wieder, als wäre das Läuten durch das Auf hängen selbst hervorgerufen worden.
Großes Erstaunen, es war Anabel Trieste (Anabel Trieste: aber ja, jene Freundin, mit der Maxime ’96 Schluss gemacht hatte und von der er mir erzählt hatte, dass
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