Gesetzlos - Roman
er sie zurückrufen würde).
Er hatte zwölf Jahre später wieder angerufen!
Heute waren sie zum Mittagessen verabredet gewesen.
Den Rest konnte ich mir vorstellen.
Etwas Entsetzliches war geschehen, sagte Anabel Trieste mit niedergeschlagener Stimme, ob ich auf dem Laufenden war? »Nein«, antwortete ich mit der angsterfüllten Stimme eines Mannes, der eine katastrophale Nachricht erwartet. »Nein«! Ich legte eine brillante Schauspielleistung hin (meine Lügennummer war in der Tat perfekt gelungen), die darin bestand, ein von mir nicht empfundenes Erstaunen darzustellen, aber zugleich, und darinlag die besondere Leistung, einen ungeheuren Schmerz, den ich nur allzu sehr empfand.
Maxime war nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen (einem Restaurant, dem
Marie Read
, auf einem Lastkahn, der am Quai Michelet festgemacht war). Ohne ihr abzusagen oder ihr Bescheid zu geben, dass er sich verspäten würde? Unmöglich, nicht wahr? (»Ja, unmöglich.«) Vergeblich hatte sie versucht, ihn zu erreichen. Nach einer gewissen Zeit hatte sie dann beschlossen, die Polizei zu verständigen. Es war ihr gelungen, dem Inspektor Hijo Mamita, einem Mann mit japanischen Wurzeln, ihre Befürchtungen glaubhaft zu vermitteln. Die Polizei hatte sich darauf hin zur Nummer 3 der Impasse du Midi in Saint-Maur begeben, und dort …
Maxime hatte Anabel in seiner moldawischen Zeit und auch bei ihrem jüngsten Telefonat viel von mir erzählt. In ihrem Schmerz und ihrer Verwirrung war sie auf die Idee gekommen, mich anzurufen. Hijo Mamita hatte ihr versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten. Wir vereinbarten, dass wir uns jederzeit gegenseitig anrufen konnten.
Anabel Trieste! Zwölf Jahre später!
Nach diesen kräftezehrenden Gesprächen ging ich hinunter einkaufen, da in meinem Viertel alle oder sagen wir fast alle Läden sonntags geöffnet waren.
Ich ging immer nur mit beklommenem Herzen am Institut Benjamin vorbei, und mein Blick wandte sich stets von der weißen Fassade ab (die die Sonne ebenso gleißend zurückwarf wie ein Spiegel).
Mein erster Gedanke war, abends in das italienische Restaurant in der Rue des Martyrs zu gehen, doch dann, ohne zu wissen warum, ließ ich den Gedanken wieder fallen, ich war nicht darauf erpicht, mit Irène in diesem Restaurant zu sitzen – und bei genauer Überlegung auch in keinem anderen: Wir würden es uns zum Essen bei mir gemütlich machen. Ich kaufte tiefgekühlten Fisch bei Picard in der Avenue Trudaine (jedes Mal, wennich dorthin ging, raubte mir die Erinnerung an den Überfall für einige Sekunden die Kraft), dann etwas Stilton im Käsegeschäft Butin (ich war mir sicher, dass sie welchen hätten, sie hatten alle Käsesorten der Welt), in der Rue Victor-Massé, rund hundert Meter hinter dem Antiquitätengeschäft von Charlier G., »Zeiten und Wunder«, vor dem mich ebenfalls – Maxime, das Cordoba-Armband – meine Kräfte verließen (war für mich nicht die Stunde gekommen, umzuziehen, unter einem anderen Himmel zu leben – in einem anderen Viertel zu wohnen? Wie man sich denken kann, sage ich das nicht bloß so dahin), schließlich ging ich die Rue des Martyrs hinunter und kaufte bei Shopi Obst und Papierservietten.
Nachdem ich wieder zu Hause war und die Lebensmittel eingeräumt hatte, bestückte ich meinen Plattenteller mit einer alten LP meines Lieblings-Flamencosängers, Manuel Ortega Juarez, der, besser bekannt unter dem Namen Manolo Caracol, im Alameda de Hercules-Viertel von Sevilla geboren war, wo Juan Belmonte und in früheren Zeiten auch die Niña de los Peines gelebt hatten (
Peines
, »Kämme«, die man sich ins Haar steckt, und nicht etwa Pein, Kummer, wie der stets aufs Äußerste gefasste Geist vermuten mag) –
caracol
: »Schnecke«, ein Spitzname, den Manuel von seinem Vater geerbt hatte – dem
mozo de espadas
des berühmten Joselito – und der dem Vater wiederum als Kind von einer Tante gegeben worden war (um genau zu sein: der Mutter von Joselito und eines anderen Matadors, Rafael el Gallo, Rafael »der Hahn«), und zwar als sie eines Tages Schnecken in einem großen Kochtopf zubereitete und, da sie sah, wie sich das Kind gefährlich dem Kochtopf näherte, sagte sie im scherzhaften Ton zu ihm: »Husch, fort mit dir,
caracol
«, »Husch, fort mit dir, Schnecke!«, und ich hörte
La luz del alba, Cuando yo me muera, Ecos del penal
(Caracol malte seine ebenso verblüffenden wie natürlichen Melismen in die Luft, gleich den seltsamen Windungen einer Pflanze, deren
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