Gesetzlos - Roman
Wachstum nur ihrem unumstößlichen inneren Gesetz folgt) und schließlich das letzte Stück auf der Platte, einschlichteres Lied,
Compañera y sobrerana
, das mir fast ein paar Tränen entrungen hätte, nein, das mir welche entrang.
Ich wischte sie fort und setzte mich ans Klavier. Als erstes schlug ich auf dem Notenpult eine Messe von Josquin auf, die ich gekauft aber noch nicht gelesen hatte und deren Titel,
Malheur me bat
(»Unglück schlägt mich«) in dieser fluchbeladenen Zeit meine Aufmerksamkeit einfach auf sich ziehen musste. Ich war gerade im Begriff, das
Agnus Dei
zu entziffern, als ein noch stärkeres Bedürfnis mich dazu drängte, nach meiner schönen Gitarre, einem Geschenk meiner Mutter, zu greifen, sie zu stimmen und, besser als ich ihn bei Reginald Drarège gespielt hatte, den Walzer
Angostura
von Antonio Lauro zu spielen.
Verborgenen Regionen meines Gedächtnisses entspringend glitten mir zwei weitere Walzer von Lauro unter die Finger.
(Wegen des Walzers bin ich erneut auf Drarège zu sprechen gekommen, aber auch weil ich zwei Tage später, am 2. eine Einladung zu einem Konzert erhalten sollte, das er Ende Juni in der Salle Cortot geben und bei dem er
My Lady Carey’s Dump
aufführen sollte.)
Die Gitarre rührte mich zu Tränen, alles rührte mich zu Tränen.
Um neunzehn Uhr dreißig notierte ich ins rote Heft die Anrufe von Mireille Bel und Anabel Trieste, bevor ich mich an die Zubereitung des Abendessens macht – ein etwas großes Wort für das, was ich zu tun hatte: zum einen zwei Auflaufformen, die je zwei Scheiben Alaska-Kabeljau enthielten, in die Mikrowelle stellen, zum anderen Reis in kochendes Wasser werfen. Als der Reis zu brodeln anfing, hörte ich ein beunruhigendes Pfeifen, das aus der Mikrowelle kam. Hastig öffnete ich die Tür. Das Pfeifen hielt an. Da sah ich, dass sich die Plastikfolien, mit der die beiden Formen bedeckt waren, zu einem kleinen Ball aufgeblasen hatte und im Innern ein hektisches Treiben herrschte, als würde der ursprüngliche Kabeljau, selbst in Scheiben geschnitten undfern von seinem Heimatmeer, wieder zum Leben erwachen. Die Erklärung dafür war einfach: Aus Zerstreutheit hatte ich vergessen, Löcher in die Folie zu stechen, was ich eilig mit ein paar Gabelstößen nachholte, und der Garprozess setzte seinen normalen Lauf fort.
Dann drehte ich das Feuer unterm Reis herunter, damit starkes Brodeln ihn nicht allzu grob behandelte.
Käseplatte, auf der ein Stück von Irènes hoch gepriesenem englischen Blauschimmelkäse thronte.
Obst.
Punkt zwanzig Uhr, ohne dass ihr die gewohnten Aufzuggeräusche vorauseilten und just in dem Moment, als ich den Fernseher anschaltete, klingelte, in Topform, in einem kurzen, enganliegenden blauen Kleid und etwas größer als heute morgen – aufgrund höherer Absätze – Irène an meiner Tür.
Kurzes Lächeln, kurzer Kuss (oder eher eine kleine Kopfnuss für den Gegner, den man gezwungenermaßen küssen muss), kurze Nachfrage zu Clara Nomen, dann ließ sie eine Reisetasche, die mit Kleidung vollgestopft war, neben das Sofa fallen, was mich weder erstaunte noch erschreckte, sie würde so lange wie nötig bei mir wohnen, auf den Tag genau, auf die Stunde genau, nicht mehr und nicht weniger.
Episode vom Handyklingel-Verbot.
»Ich bin hungrig!«, sagte sie, nachdem sich der lodernde Hass, ich habe den Zwischenfall bereits erwähnt, in ihren Augen legte.
Bluttat als Eröffnung der Fernsehnachrichten: »Grausamer, unaufgeklärter Mord in Saint-Maur an einem Rechtsexperten bei der Europäischen Kommission.«
Gefühlsregungen wohl oder übel unterdrückt. Maxime, tot!
Dankte mir Irène, dass ich das Essen vorbereitet hatte und Mademoiselle bediente (die an meinem Platz saß)? Nein. Auf dem rechten Kissen sitzend (mein Gesäß gewöhnte sich langsam daran) zwang ich mich trotz meines geringen Appetits etwas zu essen, während ich dem ausführlicheren Bericht ihres Lebenslauschte, von den beiden Waisenhäusern in der Kindheit bis heute: über ihre Krankheiten (sie hatte zwei oder drei ernsthafte gehabt), über ihre Jahre als Grundschullehrerin in Clichy, Colombes und Puteaux, und, sie kam wieder darauf zurück, über ihre Abscheu und ihre Ablehnung jedweden Liebhabers.
Ihr Vater hatte seit ihrer Geburt nie wieder von sich hören lassen. Lebte er unter falschem Namen in ihrer Heimat Connecticut oder an einem anderen Ort auf der Welt? Einige, die Irène nahestanden und zu denen in letzter Zeit Armand Nathal gehörte, hatten
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