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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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mir die Wirklichkeit im Vergleich armselig und fern vor, wie ein bloßer Abklatsch des Wunders!)
    »Die Liebesträume früher Jahre / Sind sämtlich mit der Zeit entschwunden. / Auf dass ich in Erinnerung wahre / mein Warten, bis ich dich gefunden«: Später machte ich mich daran, in meinen Büchern und auf der Festplatte meines Computers mit noch größerer Hartnäckigkeit als zuvor nach den vier Versen zu suchen. Dann kam ich auf die Idee, Dominique Grospierre, einen Schulfreund anzurufen, der inzwischen in Rom lebte, Autor von drei Gedichtbänden und ein unfehlbarer Kenner in Sachen Dichtkunst war. Aber ohne Ergebnis, wieder nichts, alles vergeblich. Es wurde allmählich zum Ärgernis. (Obendrein hatte ich den Eindruck gehabt, Grospierre, einen zurückgezogenen und weltabgewandten Menschen, gestört zu haben.)
    Meine beiden Fenstertüren führten auf den Balkon. Der linke Flügel der rechten Tür stieß gegen den Fernseher, wenn ich ihn weit öffnete, es ging nicht besser. Ich streckte die Hand nach der Fernbedienung aus und ließ sie wieder sinken. Ich sah nicht oft fern, aus Faulheit die Nachrichten und gelegentlich einen Film.
    Was für eine Einsamkeit, seit Maries Tod, der schon weit zurück lag (Marie hatte ihrem Leben wenige Monate nach unserer Begegnung ein Ende gesetzt), und was für eine noch unabänderlichere Einsamkeit seit dem Tod meiner Mutter, jenem zarten Wesen, das in einem Krankenhausbett gerungen hatte, dem Sterben schon nahe, nachdem sie sich, ohne es zu merken, eine Unterkühlung zugezogen hatte, ihr war nichts besonderes aufgefallen, und wenn ich sie fragte, ob ihr kalt war, obwohl sie niemals fror, eine Tatsache, die sie mit einem rührenden Stolz erfüllte, schüttelte sie bloß den Kopf und lächelte ihr Lächeln, das die ganze Welt verzauberte, nun aber beinahe spöttisch war und soviel bedeutete wie: »Kalt, mir? Aber nein! Du weißt doch, dass ich niemals friere!«
    Mit zugeschnürter Kehle flüchtete ich mich in die Stille des schalldichten Raums.
    Ich setzte mich ans Klavier und stellte Bachs
Partita Nr. 6
aufs Notenpult. Ich hatte beschlossen, sie jeden Tag, jede Woche weiter zu entziffern und sie auswendig zu lernen, wenn ich sie schon nicht gut spielen würde (besonders gefiel mir die
Ouvertüre
, die für sich schon eine ganze Welt war).
    Danach griff ich nach der Flamencogitarre, die auf einem hübschen Dreifuß aus lackiertem Holz rechts neben dem Klavier stand. Ich spielte ein paar Noten, dann noch ein paar, sang dazu, was nur drei-, viermal im Monat passierte, ein paar Worte aus
Coplas
, die sich für immer meinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Es vergingen vielleicht zehn, fünfzehn Minuten, dann stellte ich die Gitarre wieder an ihren Platz. Ein prächtiges Konzertinstrument (aus Port-Orford-Zedern und Macassar-Ebenholz), das meine Mutter mir geschenkt hatte, als ich in die siebte Klasse kam. Neben dem Klavier hatte ich drei Jahre bei einem Lehrer Flamenco gelernt. In letzter Zeit auch ein wenig klassische Gitarre, spanische und südamerikanische Stücke. Doch als ich mich weiter in das Klavierspiel und sein unendliches Repertoire vertiefte, gab ich das Gitarrenspiel auf. Allerdings pflegte ich das Instrumentweiter, hielt es sorgfältig sauber und tauschte die Saiten aus, wenn sie zu alt oder durch Oxidation schwarz wurden (ich spreche von den drei tiefen Saiten).
    Am späteren Abend nach dem Duschen probierte ich meine neue Nagelbürste aus. Mehr um zu prüfen, wie sie in der Hand lag und um die Ausgewogenheit zwischen weichen und harten Borsten zu untersuchen, als ihre Wirksamkeit zu testen, da sich selbstverständlich keine sichtbaren Verunreinigungen unter meinen Nägeln befanden.
    Auf meinem Balkon genoss ich für einige Augenblicke die milde Luft.
    Der Wetterbericht hatte für Freitag, übermorgen, eine Wetterverschlechterung angekündigt. Es war besser, als wenn diese Verschlechterung schon am nächsten Tag eingetreten wäre, man fühlte sich durch den Donnerstag, der eine Art Puffer bildete, gewissermaßen beschützt, konnte sich dem Wohlgefühl des Mittwochs besser hingeben.
    Gleich Donnerstagfrüh fand sich der Spiegel wieder im Aufzug, die Hausmeisterin hatte ihn geputzt und an seine alte Stelle zurückgehängt, erleichtert stellte ich fest, dass ich wieder auf Erden weilte.
    Am selben Tag brachte ich meinen Lancia zum Waschen in die Werkstatt der Rue Clauzel. Als ich ihn wieder abholte, dachte ich an Maxime: Er sah »schon ganz anders aus«, sein Rot war röter

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