Gesetzlos - Roman
als zuvor und wirkte glatter.
Am Sonntag darauf, dem 11. Juni, verbrachte ich den Nachmittag bei Maxime in Saint-Maur. Es war kühl, ein spektakulärer Wetterumschwung, sodass er die Heizung leicht aufgedreht hatte, nur ein wenig (das Thermostat erlaubte ihm, die Temperatur auf ein Viertelgrad genau zu regulieren).
Mir fiel auf, dass er mehr als gewöhnlich rauchte. Er spielte mit dem Gedanken, sagte er, das Moldawien-Projekt fallenzulassen und eine Mission in Tunis anzunehmen, die man ihm am Tag zuvorangeboten hatte. Die tunesische Regierung hatte beschlossen, ihr Rechtssystem zu reformieren. Die Europäische Union war bereit, zweiundzwanzig Millionen Euro für dieses Projekt vorzuschießen, und die EU-Kommission in Brüssel hatte Maxime angesprochen, weil sie ihn in der Situation für den geeigneten Mann hielt.
Da wir uns gut kannten und schon glücklich waren, wenn wir uns nur sahen, kam es vor, dass wir wenig miteinander sprachen. Das war auch an diesem Sonntag der Fall, bei unserem traditionellen Spaziergang durch den Park, meditieren, das Beisammensein genießen, Einsamkeit, Schweigen. (Man musste schon wissen, dass das Haus in der Nummer 1, am Ende des anderen Parks existierte. Abgesehen von ein paar Klaviertönen, die bei meinem letzten Besuch in der Nacht erklungen waren, hatte ich niemals das geringste Geräusch gehört, das von seinen »Geisternachbarn« herübergedrungen wäre.)
Die Judas-Bäume waren in diesem Monat Juni besonders schön. Sie waren voller weißer und violetter Blüten, obwohl diese bereits im Mai aufgeblüht waren und mittlerweile die ersten Blätter sprossen.
Nach dem Spaziergang begannen wir, eine lange (und schweigsame) Schachpartie zu spielen.
Erst bei Sonnenuntergang wurden wir gesprächiger, vor allem Maxime, der mir einen Gedanken darlegte, der ihm am Tag zuvor in den Sinn gekommen war und ihn plötzlich erregt hatte: Nach der Lektüre eines Artikels in einer Wissenschaftszeitschrift hatte er sich gefragt, ob ein großer und mächtiger Teilchenbeschleuniger (er dachte an einen Umfang von dreißig Kilometern) nicht in der Lage wäre, durch die Kollision von Teilchen die Bedingungen des Urknalls nachzustellen. Vielleicht könnte man auf diese Weise interessante Einsichten in den Ursprung des Universums, der Masse, der schwarzen Materie, der Antimaterie gewinnen, in die Dimensionen des Universums …
»Na sag mal, ich wusste gar nicht, dass du in Sachen Teilchenbeschleuniger so bewandert bist!«
»Das bin ich ja auch nicht. Wenn ich eines Tages die Zeit finde und mir die Frage noch genauso unter den Nägeln brennt wie heute, werde ich versuchen, mit jemandem zu reden, der wirklich etwas davon versteht.«
»Du bist unglaublich«, sagte ich, »unglaublich!«
(Tatsächlich sollte er zwei Jahre später erfahren, dass der Teilchenbeschleuniger seiner Träume sich in Genf im Bau befand und im Jahr 2008 fertiggestellt würde.)
Und er verblüffte mich ebenfalls, als er begann, eine Arie aus der Renaissance zu spielen, die er selbst bearbeitet hatte. Äußerst geschickt hatte er einen französischen Text über das berühmte Lautenstück von John Dowland gelegt, bei dem Dowland es auf ein Wortspiel zwischen dem Titel und seinem Namen angelegt hatte,
Semper Dowland, semper dolens
, stets »Dowland«, stets »wehleidig«. Maxime hatte jedoch Mühe mit der Klavierbegleitung und zog die Stimme weit hinauf in ein Kopfregister, wo sie nicht mehr frei schwingen konnte. Aus der Sicht eines Musikwissenschaftlers hätte das Ergebnis abartig, wenn nicht gar lächerlich wirken mögen. Aber das war nicht im Geringsten der Fall. Bewundernd lauschte ich meinem Freund, der eine unglaubliche Musikbegeisterung an den Tag legte, ganz zu schweigen von seinem schauspielerischen Talent, denn die traurigen Worte seines Gesanges, die Gesten und die Mimik wurden von ihm in vollkommener Weise »dargestellt«. Dann (»damit sich deine Ohren von meinem Gefiepse erholen können«, sagte er, »und um noch ein wenig bei den Wortspielen zu verweilen«) spielte er mir
Robin par bois et compagnes
von Jacob Arcadelt (1505-1567) in der Interpretation des Egidius Kwartets vor (dem sich zu diesem Anlass der schöne spanische Sopran von Maria Luz Alvarez hinzugesellt hatte) sowie weitere Musik aus der Renaissance.
Wieder zu Hause angekommen, wechselte ich nicht den musikalischen Kokon, sondern tauchte gleich in ein paar Chansons von Josquin Desprez (1440-1521) und Pierre de La Rue (1452-1518)ein,
Quand il advient, Je ne
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