Gesetzlos - Roman
sehr einzelgängerische Kater war nur bei ihr wirklich gefügig. Von Lucie ließ er sich alles gefallen. Und wenn sie ihn ansah, erfüllte er ihr Bedürfnis nach innerer Ruhe, indem er sie mit seinen reinen und unschuldigen Augen so lange ansah, wie sie es wünschte.
Sie hatte gelernt, Jakobsmuscheln zuzubereiten. Jeden Tag briet sie ihm eine, geschickt in Butter geschwenkt.
Sie hörte auf, in ihr hübsches Heft zu schreiben, und öffnete es nur noch, um die vier Verse zu lesen, die Albin hineingeschrieben hatte, um beim Lesen zu weinen und um sich an dem Geheimnis zu weiden und zu ergötzen, das sie über den Tod hinaus mit ihrem Vater verband.
Sie wurde von zwei Psychologinnen betreut. Die erste konnte ihr wenig helfen. Die zweite ab Dezember 1967 etwas besser, sodass Lucie wieder zur Schule gehen konnte, auch wenn sie die dritte Klasse wiederholen musste.
Sylvie blieb mit der Polizei in Kontakt und wurde über die Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten, die jedoch auf der Stelle traten, ja, in gewissem Sinne nie angelaufen waren.
Am Ende des Jahres 1968 legte Michel sein Abitur ab. Für ihn eine einfache Formalität, er war in fast allen Fächern Klasenbester (wobei er seinen Freund Bertrand überflügelte, der ihn im Gegenzug immer häufiger beim Schachspiel schlug). Er setzte die Malerei fort. Er arbeitete regelmäßig aber langsam, um ein Gemälde fertigzustellen brauchte er ungefähr drei Monate. Er malte nie nach der Natur, bestenfalls nach Fotos, die ihm bloß einen Vorwand für den ersten Strich boten, und immer nur Landschaften, niemals Figuren, niemals Lebewesen (obwohl er Figurendarstellen konnte, sein technisches Geschick erlaubte ihm alles). Sein Zeichenlehrer, Monsieur Valette, war von dem außergewöhnlichen Talent dieses jungen Mannes beeindruckt. Er förderte und beriet ihn. So nahm Michel 1969 am Aufnahmeverfahren der École nationale supérieure des Beaux-Arts in der Rue Bonaparte teil. In der Zeichenprüfung erwies er sich als virtuos. In seinem schriftlichen Kommentar begeisterte er die Jury mit seiner Analyse von Velázquez’
Las Meninas
und bei der mündlichen Prüfung bestach er durch seine Bestimmtheit und Reife.
Im Laufe der fünf Jahre, in denen er seine beiden Studienabschnitte meisterhaft absolvierte, unternahm er die einzigen Fernreisen, auf die er sich je begeben sollte, um die im Rahmen seines Studiums erforderlichen Auslandspraktika abzulegen. Er mochte es nicht, Paris zu verlassen, aus dem Kokon seines Hauses im Nirgendwo der Avenue Foch zu schlüpfen – obwohl er dort förmlich erstickte, das führten ihm seine Reisen so deutlich vor Augen, dass der Nachteil der Mobilität durch ein Gefühl der Befreiung kompensiert wurde, das er im späteren Leben nie wieder empfinden sollte. Nach den fünf Jahren erhielt er 1974, mit dreiundzwanzig, sein staatliches Abschlussdiplom in Bildender Kunst, mit dem er sein Studium beschloss.
Er ging weiterhin als Gasthörer zu seiner Hochschule in der Rue Bonaparte.
Und er malte, wobei er seine Inspiration immer mehr aus sich selbst zog. Keines seiner Werke zeigte je eine Figur, ein Gesicht, eine Behausung. Seine Landschaften wurden immer nackter, man hätte meinen können, er würde unentwegt einen ausgedörrten, toten Planeten malen.
Sylvie hatte sich mehr als einmal gefragt, wie es um die Beziehungen seines Enkels zu den Frauen bestellt war. Ihres Wissens hatte Michel nie eine Freundin gehabt. Da sie selbst trotz ihres Alters derart ins Leben und seine Freuden verliebt war, verstand sie das nicht und war darüber beunruhigt. Gewiss, Michel warhässlich, doch das erklärte nicht alles. Es mochte zwar eine ganze Menge Mädchen abhalten, aber nicht alle, wie Sylvie bemerkt hatte. War er homosexuell? Das glaubte sie nicht. Wenn sie mit Michel allein war, versuchte sie manchmal, ihm ein Geständnis zu entlocken, doch vergebens. Er entzog sich ihr jedes Mal. Und sie warf sich jedes Mal vor, nicht hartnäckig genug gewesen zu sein. Sie traute sich nicht. Genau genommen schüchterte Michel sie ein. Er wirkte nicht glücklich – aber auch nicht unglücklich. Führte er vielleicht ein geheimes Liebesleben? Nein, das glaubte sie nicht. Das hätte sie gemerkt.
Lucie, die 1970 mit einem Jahr Verspätung in die sechste Klasse kam, war als Schülerin weniger fleißig und brillant als ihr Bruder. Die achte Klasse musste sie wiederholen. Danach gelang es ihr, bis zum Abitur einen anständigen Notendurchschnitt zu halten.
Sie entwickelte sich zu einer
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