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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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einzige Seele mehrere Körper beseelen, ein einziger Körper mehrere Seelen beherbergen, in welchem Moment des Lebens ereignete sich das Phänomen, zum Zeitpunkt der Geburt und des Todes, ja, sicher, aber vielleicht auch in anderen Momenten, welchen, und warum – und warum erinnerten gewisse Personen sich an ihr vergangenes Leben und andere nicht, und konnte ein derartiger Austausch zwischen Bewohnern der Erde und Bewohnern anderer Planeten stattfinden, etc. Kurz, der übliche Schrott, der für diese Art von Sachbüchern charakteristisch war, bloß noch schlimmer. Maxime pflichtete mir bei. Auch er hatte die beiden Werke nur überflogen.
    Was hingegen meine vier rätselhaften Verse anbelangte, die er natürlich nicht vergessen hatte, so hatte er mehrere Stunden damit zugebracht, ihren Autor herauszufinden, jedoch ebenso erfolglos wie ich.
    Vor meiner Abreise am 29. August (dem Fest des Heiligen Michael) sang er mir eine Bearbeitung des dreizehnten Psalms in der Vertonung von Clément Janequin vor:
    Wie lange noch, Herr,
    Willst du mich ganz vergessen?
    Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht von mir?
    Wie lange noch muss ich Sorgen in meiner Seele tragen,
    Kummer in meinem Herzen den ganzen Tag?
    Mit diesen gramerfüllten Worten beschließe ich in pompöser Manier den Kurzbericht über meinen Aufenthalt in Tunis.
    Für die Lehrer begann die Schule wieder am Montag, dem 1. September (für die Schüler am 2.). Ohne sonderliche Begeisterung noch Überzeugung setzte ich meine Lehrtätigkeit am Institut Benjamin fort. Aber dank Maximes Gesellschaft war ich immerhin ausgeruht und entspannt – und ziemlich braungebrannt, darauf wies mich jeder hin (für den Fall, dass ich es nicht selbst gemerkt hätte).
    Durch einen Anruf bei Antoine Gusta am Mittwoch den 3. erfuhr ich, dass die Ermittlungen im Mordfall Cathy und Anton nicht vorankamen. Man konnte nicht viel tun außer warten. Doch worauf? Dass der gefährliche Irre ein weiteres Mal zuschlug? Leider sei das oft die einzige Hoffnung, solchen Leute auf die Spur zu kommen, sagte Gusta. Er teilte mir auch mit, dass Hubert Maynial nach einer über zweimonatigen Behandlung in einer psychiatrischen Klinik, in die man ihn nach dem Tod seiner Tochter eiligst eingewiesen hatte, erst jetzt nach Hause zurückgekehrt war.
    Auch der Sommer hatte mein Verhältnis zu Mornais und Quiret nicht erwärmen können. Die beiden gehörten zu der Sorte Leute, die es einem nicht verzeihen, wenn man sie in flagranti bei boshafter Dummdreistigkeit ertappt, und ließen erneut meinen Wunsch aufflammen, das Institut zu verlassen, Sonderurlaub zu nehmen und mir eine neue Einrichtung mit weniger gehässigen Leitern zu suchen.
    Es kam der 10. September (Claras Geburtstag, ihr zehnter, aber das wusste ich damals noch nicht – und auch der Tag, an dem Maxime diese Welt, die er so liebte und aus der er so gern geflohen wäre, eigentlich an Bord eines raketenbetriebenen Flugzeugs hätte verlassen sollen). Am späten Nachmittag ging ich zu Mathilde Étrelat. Gegen zwei Uhr dreißig verließ ich sie wieder, in der Hand eine Habitat-Folientragetasche mit einem Stapel Filmbücher, die ich ihr geliehen hatte (darunter das berühmte und unauffindbare
Secrets de tournage
). Dass sie mir die Bücher zurückgab, war an sich bedeutungslos, doch als sie mirdie Tasche mit übertriebenen Vorkehrungen reichte, huschte ein Gespenst der Trennung durchs Wohnzimmer, das sich meines Erachtens gar nicht verbergen, sondern vielmehr klar auf sich aufmerksam machen wollte.
    Bei der Rückkehr in mein Viertel fand ich keinen Parkplatz. Die Stadt war wieder voll mit motorisierten Fahrzeugen, ja, man hatte gar den Eindruck – ein alljährlich zu Schulbeginn beobachtbares Phänomen –, dass ihre Zahl sich verdoppelt hatte. Abends waren freie Plätze begehrt, ganz gleich zu welcher Zeit, und so achtete ich nicht weiter auf die zwei oder drei anderen Fahrer, die gleichzeitig ihre Runden drehten.
    Nirgendwo eine Lücke, bis auf den Platz für Lieferanten vor dem Picard-Tief kühlkost-Laden, den ich bereits hinreichend erwähnt habe, zum einen, weil er es verdient hat, zum andern, damit sich der Schauplatz der nachfolgenden Szene gut einprägt. Da ich nichts Besseres finden konnte, beschloss ich, wenn er noch frei war, das Risiko einzugehen. Er war frei. Drei große grüne Mülltonnen standen auf dem Bürgersteig aufgereiht, ich würde die Müllmänner am folgenden Morgen behindern.
    Hinter mir war ein Auto in die Avenue Trudaine

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