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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Entschlossenheit nahm auf der Fahrt nicht ab, ganz im Gegenteil.
    Schließlich bekam ich ihn tatsächlich zu Gesicht und konnte problemlos mit ihm sprechen.
    Ich klingelte. Würde er allein sein? Vermutlich nicht. Aber das war mir egal. Ich wollte ihn von meiner Unschuld überzeugen, und für den Fall, dass er hinter der Sache steckte, dieser absurden und gefährlichen Geschichte ein Ende bereiten.
    Eine tiefe neutrale Stimme erklang in der Gegensprechanlage, Maynials Stimme, das hätte ich schwören können:
    »Ja, wer da?«
    »Luis Archer. Der Musiklehrer vom Institut Benjamin.«
    Kurzes Schweigen, dann erneut die Stimme mit langsamen, bedächtig, einseitig, ohne Betonung gesprochenen Wörtern – keine Spur von Überraschung – als sei er bemüht, jede Silbe sorgfältig auszusprechen, um gut verständlich zu sein:
    »Ich öffne Ihnen. Kommen Sie herein, nehmen Sie die Hauptallee, dann die zweite Allee links und dann die erste rechts. Die Haustüren brauchen Sie nur aufzudrücken. Ich erwarte Sie.«
    Es gab ein lautes »Klack!« und die Gittertür öffnete sich einen Spalt.
    Hier und da war der Park von Laternen beleuchtet.
    Während ich zwischen den Bäumen umherwandelte, musste ich an Cathy denken.
    Vielleicht würde ihr Angreifer, der just an diesem Abend an den Ort seiner Missetat zurückgekehrt war, hinter den Büschen hervorspringen und sich mit einer Axt auf mich stürzen? Und was, wenn Hubert Maynial den Angreifer vom 21. Juni selbst angeheuert hatte, damit dieser Anton und Cathy umbrachte, ja, Cathy, seine eigene Tochter, schließlich wusste er genau, wie man vorgehen musste, um Leuten einen Mörder auf den Hals zu hetzen? Diese überspannten Ideen deuteten sicherlich darauf hin, dass ich Angst hatte (weder hatten sie eine andere Bedeutung noch würden sie je eine andere haben), doch kann ich mich nicht erinnern, Angst empfunden zu haben.
    Nein, ich empfand keine Angst.
    Zweite Allee links, schmaler als die Hauptallee. Die hohen Bäume wirkten dadurch noch eindrucksvoller.
    Erste rechts.
    Nach etwa hundert Metern kam ich an eine weite Lichtung, auf der ein Bauwerk neogotischen Stils aufragte, das den Betrachter durch seine beiden hohen Ecktürme und die vielen Dachgauben verblüffte, ein protziges Herrenhaus ohne jede Anmut, das Maynial ein Jahr nach Cathys Geburt hatte errichten lassen.
    Im Erdgeschoss brannte Licht. Ich stieg die sechs Stufen hinauf und wandte mich zur Eingangstür, die sich bei meinem Herannahen (mit einem leisen »Klack!«) öffnete – es sei denn, Maynial hatte die Zeit, die ich für den Weg brauchte, geschätzt oder es waren Überwachungskameras in den Bäumen des Parks versteckt. Die Tür führte zu einem leeren Saal, der mit dem Stein, dem Holz und den kunstvoll verzierten Fenstern wie eine Art mittelalterliches Vorzimmer anmutete. Drittes und letztes, diesmal gedämpftes, schüchternes »Klack«, und eine der beiden Türen im Raum, jene mir gegenüber, öffnete sich.
    Ich drückte sie weiter auf und hörte aus der Ferne ein schwaches: »Herein!«
    Ich trat ein.
    Es war ein riesiger, länglicher Saal mit derselben mittelalterlichen Anmutung wie das Vorzimmer. Am anderen Ende erblickte ich Maynial. Als erstes fielen mir seine langen weißen Haare auf (für einen kurzen Moment überfiel mich erneut ein wahnhafter Verdacht) sowie der mit Bögen verzierte Kardinalsstuhl, auf dem er saß.
    Außer ihm war keiner da, zumindest in diesem Raum. Er winkte mich mit der rechten Hand zu sich heran (»Kommen Sie doch näher«), als wäre er zu erschöpft, um irgendeinen Laut von sich zu geben.
    Einen Raum (von solcher Größe) zu durchqueren, wenn jemand Sie vom anderen Ende her beobachtet, ist eine Herausforderung, man weiß nicht, wo man hinblicken soll, selbst wennes jemand ist, den man gut kennt (dabei fällt mir wieder mein Unbehagen ein, als ich Maxime meine vier Verse vortragen sollte), und in diesem Fall, wenn der andere Sie für den Vergewaltiger und Mörder seiner Tochter hält und täglich versucht, Ihnen ein paar Kugeln in den Kopf zu jagen, ist die Herausforderung umso größer.
    Er hingegen wusste, wo er hinblicken sollte: Er ließ mich nicht eine Sekunde aus den Augen.
    Nichts hinderte mich an meinem Voranschreiten. Ein langer roter Teppich am Boden führte mich geradewegs zum Herrn des Hauses. An den Wänden aus Quadersteinen standen mehrere Möbelstücke, Kisten, Schränke, Sessel. Maynials Rollstuhl stand gleich links neben dem Kardinalsstuhl, auf dem er thronte. Zu seiner

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