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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Weise an Lucie.
    Kurz darauf verließen sie das Restaurant.
    In der Rue des Martyrs kamen sie in einen Stau. Michel verstand nicht warum. Sie erfuhren den Grund von einer elegant gekleideten, älteren Dame, die von Auto zu Auto ging und jedem erklärte:
    »Die Müllabfuhr! Um diese Zeit!«
    Um diese Zeit konnte ein überdimensioniertes Fahrzeug wahrhaftig ein Drittel der Stadt lahmlegen.
    »Endlich geht es weiter«, seufzte Michel eine Minute später.
    Sie sahen den Lastwagen der Müllabfuhr in die Avenue Trudaine einbiegen.
    »Ja!«, sagte Clara.
    Sie wandte sich zu ihm um und lächelte. Ihre blau-grünen Augen waren heute so hell und das Haar fiel ihr so hübsch, so kunstvoll über die Schultern, dachte Michel bei sich, ja, kunstvoll, das war das richtige Wort, als hätte jemand sie Strähne für Strähne angeordnet.
    »Fährst du mich zu Mireille?«, sagte sie. »Sie wohnt Opéra. Wir wollen den Abend gemeinsam verbringen, nur unter Mädchen.«
    Am 23. April wohnte Michel dem ersten der fünf Konzerte bei, die Clara Nomen, Vincent Leroy und Mireille Bel in der Bibliothèque Nationale gaben. Michel hörte inzwischen bereitwilliger Musik als früher, sein musikalischer Geschmack hatte sich entwickelt, verfeinert, aber er blieb immer ein wenig ein Außenstehender, die Musik würde nie seine Welt werden.
    Abgesehen von ihrem ausgezeichneten künstlerischen Niveau waren alle drei Interpreten ausgesprochen schöne Menschen, es war ein Vergnügen, ihnen beim Spielen zuzusehen. In punkto körperlicher Schönheit fand Michel Vincent (den er zum ersten Mal sah und den er nach dem Konzert kennenlernte) weniger beeindruckend als die beiden Frauen. Er war ein junger, großer, recht hagerer Mann mit schwarzem welligem Haar und einem sehr sanften Gesicht, aber die Lippen waren zu schmalund seinem Kinn mangelte es an Entschlossenheit. Niedlich, weiter nichts, sagte sich Michel. Er versuchte sich Clara mit diesem Vincent vorzustellen: Nein, Clara würde warten, bis sie jemand anderem, jemand Besserem begegnete.
    Es sei denn, sie würde den ersten Schritt in die Welt der Liebe eben mit einem so wenig beeindruckenden, so harmlosen Jungen wie Vincent Leroy machen wollen. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe.
    Erst recht nicht mehr, als Clara ihm zwei Wochen später erzählte, dass am 23. Mai in der Vallée de Chevreuse im Schloss von Mathieu Pipelare, dem Agenten des Trios, eine Abendgesellschaft stattfinden sollte. Pipelare hatte viele bedeutende Persönlichkeiten zu den Konzerten in der Bibliothèque Nationale eingeladen, unter ihnen den alten, den steinalten Jules Bainchoy, stellvertretenden Direktor von
Madrigal
, einer Plattenfirma, die in den vergangenen Jahren mächtig expandiert hatte. Seine strenge Musikauswahl, die technische Qualität der Aufnahmen (die in einem Studio von Bologna, in Italien, unter der Leitung des talentierten Tonmeisters Renato Germi gemacht wurde) und mittlerweile die Garantie, international vertrieben zu werden, zogen viele Musiker und Agenten an. Bainchoy war von dem Mendelssohn-Konzert begeistert gewesen. Er hatte Pipelare kontaktiert, der ihn zu der Feier am Abend des 23. eingeladen hatte.
    Bei solchen Abendgesellschaften, die außerhalb von Paris stattfanden und bis spät in die Nacht dauern konnten, übernachtete Clara zuweilen bei ihren Gastgebern, wenn diese es ihr anboten. Und das würde Pipelare sicher tun, dachte Michel bei sich, der normalerweise nicht über die Maßen ängstlich war – aber an diesem Abend wäre dieser Vincent dabei … Ja, aber wenn es dazu käme, dann natürlich nicht unter solchen Umständen. Bei Pipelare hätte jeder sein eigenes Zimmer und würde darin bleiben, er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie Clara durch die Flure irren und Vincent ihr die Tür öffnen würde, nein, völlig undenkbar.
    In den folgenden Wochen nahm sich Clara (vergeblich) Zeit, um nach dem Ursprung der vier Verse zu suchen, die sie im Tagebuch ihrer Mutter gefunden hatte – und Michel fertigte das beste Portrait seiner Nichte an, das er je gemacht hatte. Clara war von der Ähnlichkeit, die komplexer, subtiler als der Widerschein eines Spiegels oder als jedes noch so gelungene Foto war, verwirrt und hingerissen zugleich.
    Wenn man das Gemälde betrachtete, meinte man, den sanften Klang ihrer Stimme zu hören. Michel war überzeugt, dass er endlich das Element gefunden hatte, in dem die auffällige Harmonie von Claras Gesicht verborgen lag. Vielleicht war es seine Bestimmung (der Gedanke hatte

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