Gesetzlos - Roman
einen bitteren Beigeschmack), dieses demutsvolle Meisterwerk zu schaffen, das zwar nicht für alle Ewigkeit Bestand hätte, aber gewissermaßen vollkommen war. Er hängte es unverzüglich an Stelle des anderen über dem Klavier im Wohnzimmer auf. (Dieses Portrait sollte ich am Samstagnachmittag, den 24. Mai ’08, am Tag nach dem 23., unter grausigen Umständen zu Gesicht bekommen, von denen ich schon bald berichten werde.)
Am 20. teilte Mathieu Pipelare Clara am Ende eines langen beruflichen Telefonats mit, dass die Zimmer in seinem Schloss ihr in der Nacht des 23. selbstverständlich zur Verfügung stünden: ihr und ihren beiden Freunden aus dem Trio. Clara bedankte sich. Michel kam genau in dem Moment herein, als sie auflegte. Sie sagte ihm, wie entzückend sie Pipelare fand, und erzählte ihm von seinem freundlichen Angebot.
»Wenn ich die Möglichkeit habe, fahre ich ja lieber nach Hause«, sagte sie, »aber in dem Fall …«
»Du wirst ja sehen, wie die Lage ist«, sagte Michel.
»Ja, ich werde sehen. Aber vermutlich wird es vier Uhr werden, und wir werden allzu oft an irgendeinem Champagner genippt haben, dessen Vorzüglichkeit Mathieu Pipelare uns jetzt schon anpreist … was habe ich doch für ein Glück mit diesemAgenten! Diese Musikbegeisterung! In der Ausprägung findet man sie nur selten, das sagen auch alle andern.«
In dem Moment wurde Michel von einem schmerzlichen Gedanken erfasst, der ihn bis zum Fest nicht mehr loslassen und noch schwerwiegende Folgen haben sollte. Gewiss, er konnte sich nicht vorstellen, dass es in der Nacht vom 23. auf den 24. irgendein Techtelmechtel unter Mathieu Pipelares Dach geben könnte. Aber was, wenn Vincent, so wohlerzogen und taktvoll der junge Mann ihm auch erschienen war, was, wenn der verliebte Vincent Clara um drei Uhr früh anbot, bei ihm zu übernachten? Pipelare beherbergt sie, gut. Aber aus irgendeinem Grund (»ich werde sehen«, hatte Clara gesagt) wollen sie dann doch lieber nach Hause fahren. Sie verabschieden sich, verlassen das Schloss. Und Vincent schlägt Clara vor (hat er drei Minuten zuvor überhaupt den Gedanken erwogen? Vielleicht nicht …), zu ihm zu gehen, er ist ganz gerade heraus, ohne Falsch, ohne Hintergedanken. Er hat ein Gästezimmer, ihre Gegenwart würde ihn nur zu glücklich machen! Und Clara willigt ein. Vincent ist so sanft, er stößt sie nicht vor den Kopf, er macht ihr keine Angst, sie ist sicher, dass er all ihre Wünsche und Nicht-Wünsche respektieren wird. Sie willigt ein. Doch wenn sie erst bei ihm sind, wer weiß, ob nicht so ganz allmählich, ohne dass sie oder er irgendetwas bewusst entscheiden …
Michel ging duschen. Es war halb zwölf. Er würde wie jeden Dienstag (seit so vielen Jahren!) erst gegen sechzehn Uhr in sein Arbeitszimmer in Garches zurückkehren. Anschließend goss er sich eine Schale Kaffee ein, schwarz, und ging hinüber zu Clara. Sie saß am Klavier. Er liebte es, ihr hier im Haus von Saint-Maur zu lauschen, es war als würde sie ein Konzert nur für ihn geben. Clara beendete das Stück. Michel tat, als interessiere er sich für die Musik (die ihn im Übrigen nicht gleichgültig ließ: Die Vielschichtigkeit des Stückes, sein obsessiver Charakter, die kunstvoll verwobenen Stimmen, die Dissonanzen der letzten Takte – das alles war ihm nicht entgangen):
»Was ist das für ein hübsches Stück?«
»John Browne, ausgehendes 15. Jahrhundert. Es handelt sich um das Klavier-Arrangement eines siebenstimmigen Stücks. Zwischen zwei Psalmen greift der Chor den Refrain wieder auf. Das verleiht dem Stück seinen betörenden Charakter.«
Michel las den Titel des Stücks auf der Partitur,
O regina mundi clara
(und den Namen des Arrangeurs, Luis Archer).
»Und dann steckt auch noch dein Name in dem Titel …«
»Ja! Die ganze Sammlung ist gut. Lauter Bearbeitungen von Werken aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Luis Archer hat unglaubliche Arbeit geleistet. Was für eine Kenntnis des Klaviers und dieser Musik, der Musik schlechthin!«
»Bist du diesem Luis Archer schon einmal begegnet?«
»Nein. Die Partituren hat mir Vincent empfohlen. Ein befreundeter Pianist hat ihm davon erzählt. Ich spiele dir das nächste Stück vor, einverstanden? Es ist ein Rondo von Guillaume de Machaut,
Ma fin est mon commencement
– Mein Ende ist mein Anfang. Hübscher Plan, oder? Jede Stimme bildet eine andere nach, aber in umgekehrter Folge, von der letzten Note hin zur ersten. Hier, wenn du magst, kannst du den Text mitlesen.«
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