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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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(Sie wies auf das Seitenende.) »Stell dir vor, die Worte erklären das Verfahren! Als würde die Musik selber sprechen, einfach unglaublich!«
    Michel beugte sich vor und las den kurzen Text des »rückläufigen Rondos«.
    »Wahrlich verblüffend, mein Schatz. Nur zu. Ich lausche dir mit der üblichen Verzückung.«
    In der Tat lauschte er ihr so gut er konnte. Clara spielte so hingebungsvoll und ließ jede der ineinander verschlungenen Stimmen so deutlich herausklingen! Aber noch immer verfolgten ihn peinigende Bilder, er kam nicht dagegen an. Vincents schüchtern-diskreter Versuch Clara an der Schlafzimmertür zu küssen, und Clara, die in ihrer leisen Ergriffenheit den Kuss schüchtern-diskret erwidert …
    Und Clara würde am folgenden Tag nicht nach Saint-Maur zurückkehren und sagen »ich habe hier geschlafen« oder »ich habe dort geschlafen«. Und er würde natürlich keine Fragen stellen. Er spürte, dass sein Wille, sein Verstand ihm abhanden kamen – ein ähnliches Gefühlschaos hatte er schon bei der Geschichte mit Dragège, dem verführerischen Gitarristen durchlebt (viel verführerischer als Vincent).
    In diesem Moment traf er den Entschluss, sich in jener Nacht auf die Lauer zu legen.
    Er hatte am 23. selbst eine gesellschaftliche Verpflichtung, in Garches: die Ausstellung eines Schülers (Marc Martin, der talentierteste), Vernissage, Abendessen. Danach würde er ins Auto steigen und, ja, er würde sich auf die Lauer legen, Pipelares Anwesen ab einer bestimmten Uhrzeit bewachen. Dieser Plan ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, und er stellte ihn bis zum 23. auch nicht mehr infrage. Wenn er dann entdecken sollte, dass Clara und Vincent gemeinsam das Schloss verließen und Clara nicht nach Saint-Maur zurückkehrte, also bei Vincent schlief, nun, dann würde er kein Drama daraus machen – oder vielleicht würde er ein Drama daraus machen, aber wenigstens hätte er Gewissheit, und er wollte Gewissheit. Für den anderen Fall konnte er davon ausgehen, dass sich zwischen ihnen nichts ereignet hatte, was für eine Erleichterung, mein Gott, was für eine Erleichterung!
    Es lohnte sich also …
    Zumindest war er in den folgenden drei Tagen davon überzeugt.
    Am 22. nachmittags nahm er die Umgebung in Augenschein. Am Eingang des Parks der Vallée de Chevreuse sah er Schilder, die die beiden nahe gelegenen Ortschaften Gometz-le-Châtel und Gometz-la-Ville ankündigten. Dunkle Erinnerungen prasselten auf ihn ein, und in seinem gegenwärtigen Geisteszustand rückten weitere Erinnerungen an jene Katastrophen nach, die sein Leben geprägt hatten.
    Eines der beiden Schlösser, die ein wenig außerhalb des Dorfs La-Celle-les-Bordes lagen, gehörte Claras Agent, Michel parkte sein Auto ganz oben auf einem kleinen Hügel, etwa hundert Meter vom Eingang entfernt. Vor dem Gebäude, aber vor allem dahinter, erstreckte sich ein Park, der von Alleen durchzogen war, dort, hatte Clara ihm gesagt, würden am Abend des Festes die Autos parken. Er würde sich einen Platz suchen müssen, von dem aus er die aufbrechenden Gäste beobachten konnte. Und dann hieße es, sich in Geduld zu üben.
    Die Aussicht auf eine schlaflose Nacht machte ihm keine Angst.
    Sein Blick fiel auf einen mächtigen, etwa dreißig Meter hohen, breiten Baum mit dichtem Laubwerk, ein grüner Turm, der von Weitem ehern wirkte wie ein Turm aus Stein oder Metall. Gewiss der Ahorn, von dem ihm Clara erzählt hatte, mit dem größten Umfang der Region, der älteste obendrein (er war 1853 gepflanzt worden), jener Baum, auf den Mathieu Pipelare furchtbar stolz war (aber er war in all seine Bäume vernarrt, ob nun in die Haselnuss von Byzanz, den Cunninghamias von China oder die Sibirische Ulme) – kein einziger Gast kam um den Besuch dieses Prachtexemplars herum –, zumal bei der Begutachtung seiner Blätter selbst die Botaniker überrascht gewesen waren, denn neben ihrer Fächerform, den charakteristischen fünf spitzen Lappen, wiesen sie ein weiteres, unerklärliches Merkmal auf: Sie waren mit einem dünnen schwarzen Rand verziert.
    Genau unter diesem Ahorn stellte Michel am 23. Mai um Mitternacht sein Auto ab. Er stand weit entfernt von Claras Austin und Vincents dickem Volvo, und weit genug vom Eingang des Schlosses, um nicht gesehen zu werden – nicht weit genug jedoch, als dass er Clara nicht erkennen würde, wenn sie auf der erleuchteten Treppe erschiene, für den Fall dass sie den Ort verließe, solange er auf der Lauer läge.
    Ein heftiger Wind kam auf,

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